10. September 2011

Étape 11 Saumur - Chambord

Der neue Morgen lockt mit Sonne satt. Ich blinzle kurz durch den halb zugezogenen Vorhang und stehe mit einem entschlossenen Ruck auf - Aua! Der Schmerz im Hintern holt mich ziemlich schnell ins Hier und Jetzt zurück: In meinen Schlafshorts prangt der Abdruck der gestrigen Eincrem-Aktion.

Oh man. Noch 3 Etappen.
Und mein Hintern schmerzt schon, bevor ich überhaupt einen Meter gefahren bin.

"Na, das kann ja Eiter werden!", frotzelt Flow mir den uralten Spruch entgegen. Recht hat er!


Fast vergessen sind die Schmerzen, als wir nach dem Frühstück wieder auf den Rennrädern sitzen und die ersten Kilometer entlang der wundersam verzaubert glitzernden Loire fahren. Wir sind guter Dinge, entspannt, fahren oft neben einander her und unterhalten uns locker.

Wir scherzen.
Cruisen fast gemütlich.

Ich bin erleichtert, dass Flow nicht gleich morgens schon aufs Pedal drückt.


Die Luft ist frisch, es weht ein warmer, fast feucht gesättigter Wind durch den Helm und ich genieße die leichte Gänsehaut, die die Morgenfrische auf meinen Unterarmen verursacht - immer wieder aufgewärmt von der Sonne, die sich anschickt, uns heute wohl wieder mit einer Hitzeetappe zu beglücken.


Die Route führt uns heute entlang des geruhsam dahinfließenden Flusses weiter nach Westen - Paris entgegen. Wir werden heute die Städte Tours und Blois passieren - Fixe, einer der besten FFreunde von Flow, hat uns für heute Abend eine Übernachtung bei einer Familie organisiert.

"Wo wohnen die?", frage ich Flow, denn mein Garmin hat nur eine Route bis Blois - lang genug, denn allein diese Strecke wird uns schon 145 Kilometer abverlangen. Fragwürdig, ob ich das überhaupt aushalten kann. Unstrittig, dass ich mehr wohl nicht aushalten werde. Flow weicht aus.

"Ähm, bei Blois. Irgendwie. Das klären wir noch ...", stammelt er mir eine Antwort zurecht und fährt nach vorn.


Ich traue dem Frieden nicht so recht, mache es mir einstweilen in Flows Windschatten gemütlich und beschließe, zur Not halt allein in Blois zu bleiben: Mal ehrlich, dann lieber 90 Euro zahlen und dafür den Arsch behalten ...

Wie auf Bestellung fängt mein Hintern an, mir unmissverständliche Signalee zu senden: Übertreibe es heute nicht!

Oh man, und das schon nach 20 Kilometern!


Ich versuche, mich zusammen zu reißen, beiße die Zähne zusammen und rufe mir in Erinnerung, warum ich das hier alles mache: Es ist mein Urlaub! Ich will hier eine schöne Zeit erleben und ein tolles Land kennen lernen. Die Berge sind vorbei, der sportliche Teil, jener Teil unseres Trips, den wir gemacht haben, um uns zu beweisen, dass wir die größten Pässe der Tour de France fahren können, er liegt hinter uns.

Wollten wir die Etappen bis Paris nicht nutzen, um es etwas gemütlicher angehen zu lassen? Um eine RADTOUR zu fahren? Ich schaue auf mein Garmin. Da steht eine 38.
Gemütliches Cruisen sieht anders aus.


Wunderbar an Frankreich ist ja auch, dass sie ihre Kreisverkehre meist liebevoll ausgestalten. In einem der Dörfer müssen wir anhalten - zwar verpassen wir das Hinweisschild, auf dem steht, welche Partnerstadt dieses Dörfchen hat, unverkennbar allerdings, dass es eine deutsche sein muss.

So also sehen sie uns?
Wir grinsen, machen ein Foto und fahren weiter.


Flow lässt nichts anbrennen. Gewohnt kräftig tritt er den höchsten Gang - wenn ich drei Mal trete, hat er gerade mal die zweite Kurbelumdrehung beendet. Noch immer zieht er sein Experiment durch: Im höchsten Gang fahren ohne zu schalten.

Immer mal wieder muss ich abreißen lassen: Ich halte es kaum noch aus und muss somit immer wieder aus dem Sattel gehen, einen Gang höher schalten, mich aufrichten und entspannen. Flow scheint das zu nerven - oder zu unterfordern. Jedenfalls nutzt er diese Pausen und sprintet wie ein Irrer nach vorn. Es dauert nur wenige Sekunden, bis er einen stattlichen Abstand herausgefahren hat. Faszinierend, sich das anzusehen.


Die Kilometer schmelzen. Immer wieder muss ich aus dem Sattel gehen. Immer wieder versuche ich, mich anders auf dem harten Sattel zu platzieren - gibt es denn da noch irgend eine Stelle, an der es nicht weh tut?

Ich sehne Tours herbei. Gottseidank müssen wir unsere Flaschen auffüllen. Ein verdächtiges Grummeln zieht sich durch meinen Bauch. Abgesehen davon nervt es mich, wie wir hier durch die Landschaft zuckeln: Flow macht vorn seine Spielchen, ich quäle mich hinten ab, um nur halbwegs an ihm dran zu bleiben - Teamfahren sieht anders aus.

Allerdings: Das mag Flow ganz anders sehen.


Als wir in Tours ankommen, ist es genau Mittag. Die Sonne steht fast am höchsten Punkt, die Luft ist stickig - verschwunden die feuchte Frische des Morgens.

Trotzdem sind die Straßen fast menschenleer, wir kommen gut voran und finden uns bald im Zentrum der Stadt wieder: Belebter hier, eine große Fußgängerzone ist gut gefüllt mit Menschenmassen. Ich kann es kaum erwarten, mich endlich hinzusetzen und etwas zu essen!


Wir finden eine Bank im Schatten des mächtigen Doms, machen es uns bequem und lassen für eine Weile die Seele baumeln. Flow packt ein mächtiges Paket mit selbstgeschmierten Broten vom Hotelbüffet aus, ich habe mir drei riesige gefüllte Schokoladenteilchen gekauft. Das Erste atme ich nur so weg, bei den beiden anderen lasse ich mir etwas länger Zeit.

Frankreich - ist eben auch ein Land der Genüsse.


"Flow ...", fange ich an, "Das wird heute ganz schwer ... 145 Kilometer ... keine Ahnung, ob ich das schaffe." Ich versuche, ihm irgendwie zu erklären, dass ich meine Fälle wegschwimmen sehe. Er macht mir Mut: "Ach, komm schon, wir haben schon 80 Kilometer geschafft - mehr als die Hälfte!"

Stimmt. Mehr als die Hälfte.

Inmitten aller Touristen suche ich mir in blühenden Oleanderbäumen ein halbwegs blickdichtes Fleckchen, schäle mich aus meiner Radler-Kombination und schmiere mir ungelenk eeine handvoll Schmerzsalbe in die Kimme. Und hoffe, dass nach den obligatorischen 20 ersten Horrorminuten alles wieder in Ordnung sein würde.

Dann fahren wir los.


Wir fahren von der Südseite der Loire über eine wunderschöne, alte Fußgängerbrücke über die Loire, biegen nach rechts ab und finden uns auf einer dicht befahrenen Straße wieder - Flow setzt sich an die Front, das Tempo zieht an, 35, 36 km/h. Und wieder bolzen wir uns durch den dichten Verkehr.


Links neben uns ragen steile Felsen auf. Die Bewohner haben es sich in ihnen gemütlich gemacht: Die Felsen sind anscheinend durchzogen von Räumen und Gängen. Sogar Fenster haben sie eingebaut. Gemütlich, kühl müsste es dort sein, denke ich mir.


Als die Felsenwohnungen aufhören, passieren wir ein schnuckeliges Chateau - hier würde es sich aushalten lassen: Pitoreske, wunderbare perfekte Welt. Wenn nur diese Bundesstraße nicht wäre ... und schon bin ich wieder im Hier und Jetzt.

Langsam klingen die akuten Schmerzen in meinem Hintern ab: Die wohltuende Betäubung der hochdosierten Ibuprofen-Salbe setzt sein und ich kann mich wieder ein bisschen entspannen.


Die Landschaft verändert sich kaum - ohne dass es langweilig wird. Immer wieder künden weiß schimmernde, kleine Dörfchen und Städtchen am anderen Ufer von der langen Geschichte, die dieser Fluss wohl erzählen könnte.

Wer lebt hier? Und von was?

Kaum vorstellbar für einen Großstädter wie mich, dass es auch andere Lebensentwürfe geben kann, als in einer hochtechnisierten, industrialisierten Welt zu leben.



Wir passieren die kleine Stadt. Anhalten ist nicht. Langsamer machen auch nicht. Fürs Erste bin ich versorgt - mein Hintern gibt Ruhe und vorn spendet Flow wieder großzügig Windschatten. Er zieht mich mit Vollkraft an der Loire entlang und nichts, weder Hitze noch Wind scheinen ihm irgend etwas anhaben zu können. Wahnsinn, diese Kondition!

Später im Jahrm wenn wir für unsere Rennrad-Equipe SunClass einige Rennen des German Cycling Cup bestreiten werden, wird Flow regelmäßig mit seiner Härte und wahnsinns Kraft-Ausdauer beeindrucken.



Dann, fast wie ein kleiner, unerwarteter Schock, schießen wir auf ein großes gelbes Schild zu, das spontan unseren Puls in die Höhe treibt: Die Ankündigung einer Straßensperre für die Grand Boucle, die Tour de France, die hier, genau hier in weniger als 2 Wochen durchkommen wird.

Flow und ich müssen natürlich anhalten und bauen uns - stolz wie Bolle - am Straßenrand auf uns posieren vor diesem Straßenschild, als seien wir Etappensieger. Manch Autofahrer hupt uns an und kann verstehen, warum wir so aus dem Häuschen sind - manch einer schüttelt im Vorbeifahren aber auch nur den Kopf.



Weniger Kilometer hinter dem Schild überqueren wir sie dann, jene Stelle, an der das Peloton (ich glaube, auf der vierten oder fünften Etappe) die Loire auf der Brücke überqueren wird. Als wir die Straße kreuzen versuche ich mir vorzustellen, wie sie hier mit 45, 50 Sachen unter lautem Getöse der Zuschauer über den Asphalt schießen werden - ein wundervolles Gefühl.

Für kurze Zeit kann ich den analen Alptraum, der sich in meinen Radlerhosen abspielt, vergessen und muss grinsen.


Wir spulen wieder Kilometer ab. Neben uns - fast so, als wäre er da schon immer gewesen - fließt räge die Loire dahin und immer wieder winken uns Kanufahrer, Reiter oder Badegäste zu. Ich verspreche mir, dass ich hier eines Tages wieder herkommen würde um diesen wundervollen, wild belassenen Fluss näher kennen zu lernen. Fürs Erste aber ist mein Ziel für heute eindeutig: Überleben.


Es ist ja nicht so, dass ich ein Weichei wäre, beiweitem nicht. Manch Etappe in meinem Leben war mit großen - gern auch mal körperlichen - Schmerzen verbunden. Aber das hier, das ist eine neue Qualität. Sicher, ich hätte auch meinen etwas schwereren, dafür sehr viel komfortableren, Prologo-Sattel auf dem Rad belassen können - aber nein, es musste ja der Carbonsattel von fizik sein. Denn das Profiteam von Garmin-Cervélo fährt ja auch kein Prologo.

Stylish. Abr schmerzvoll. Wie sagt man so schön? Wer schön sein will muss leiden.
Und ich leide!


Fast steigen mir Tränen in die Augen, als wir endlich Blois erreichen. Kaum zu glauben - 140 Kilometer stehen auf meinem Tacho!

"Flow ... rechts ran und Pause!", rufe ich ihm zu und er nickt.
Wir halten im Schatten einer mächtigen Kirche, ein Brunnen plätschert und sofort stürmen wir einen Laden, kaufen eiskalte Brause und Wasser, trinken, bis der Bauch platzt und befeuchten Beine und Kopf mit dem erfrischenden Wasser unter der Kirche.
Vögel zwitschern.
Schulmädchen gackern.
Kein Surren des Freilaufes.
Ein Genuss ...

"Sag mal," fange ich an, "Wo müssen wir denn jetzt hin?"
"Joaaa ...", Flow grinst, "Also, die heißen ... Lieges. Oder so. Und die wohnen in ... Cham...Chambord." Er hat einen zerknüllten Zettel aus seinem Rucksack geholt.
"Und wo ist CHambord?", frage ich ihn.
"Naja. Irgendwie 10, 15 Kilometer westlich von Blois."

So richtig sicher scheint er sich dessen aber nicht zu sein.
Ich suche im Garmin nach Chambord. Die Route wird berechnet. Ich könnte kotzen: "25 Kilometer noch?!", mich trifft es wie ein Schlag. Mein Hintern scheint einen extralangen Schmerz ins Hirn zu schicken. Ernsthaft erwäge ich, einfach hier in einem Hotel zu bleiben.


Natürlich fahre ich mit Flow weiter, was solls?
Wir überqueren die Loire in südlicher Richtung und finden uns bald am Stadtrand von Blois wieder, wo der Rennrad-Gott scheinbar eine Belohnung für uns bereitstellt - ganz so, als wolle er sagen: Nur die Tüchtigen, nur die Mutigen werden belohnt ... Wir kommen an einer alten, aber ziemlich intakt aussehenden Bahn vorbei.

"Yeah, geil!", rufe ich begeistert: "Das wollte ich schon immer mal ausprobieren!"


Wir erspähen beim Pinkeln, dass niemand beim ziemlich belebten Tennisclub nebenan ein Auge auf die Bahn zu haben scheint. Flow findet ein Loch im Zaun, durch das wir unsere Rennräder bugsieren. Dann heben wir die Räder über die Absperrung auf den schiefen Beton der Bahn.

Wow, schaue ich mich im Oval umher: Das also ist eine echte Bahn. Wer hier wohl schon alles gefahren sein wird? Vielleicht Große Namen wie Laurent Fignon? Anquetil? Jalabert?

"Stell Dir mal vor, hier ist vielleicht auch Monsieur Suire gefahren!", ruft Flow und spielt auf den Französischen Meister an, der uns in Bordeaux aus einer ziemlich aussichtslosen Situation gerettet hat.

Flow schwingt sich sogleich auf sein Isaac und beschleunigt.


"Gar nicht so einfach!", ruft er mir im vorbeisausen zu. Wie verrückt gibt er Gas und zieht mehrmals den Speed an - so richtig hoch in die Steilkurven schafft er es aber nicht und hält auch bald atemlos neben mir an: "Los, versuchs mal ..."

Das lasse ich mir natürlich nicht zweimal sagen.


Und tatsächlich: Ich kann zwar auf über 45 km/h beschleunigen, wenn ich aber auf die Steilkurven zuschieße, traue ich mich nicht und zögere: Bei Eurosport sieht das so leicht aus, wenn sie da fast 45 Grad zum Horizont durch die Kurven heizen - ich aber raue mich nicht einmal, die rote Linie zu überfahren. Zu groß die Angst, dass meine Speed nicht ausreichen, dass mich die Fliehkräfte auf der Bahn halten.

Ausgebrannt halte auch ich nach 4 oder 5 Runden neben Flow an.

Spaß gemacht hat es allemal!


Wenig später verlassen wir, weiter gen Westen fahrend, die unmittelbare Nähe der Loire und bahnen uns auf kleinen Landwirtschaftsstraßen unseren Weg durch Felder, auf denen sich goldgelb volles Korn im frischen Wind wiegt.

Ich zähle die Kilometer runter, denn die Schmerzsalbe lässt langsam aber sicher nach - Erschöpfung macht sich in meinen Muskeln breit. Gottseidank hat auch Flow das Tempo etwas gedrosselt.


"Erinnert mich an meine Heimat, das Oderbruch!", rufe ich Flow zu. Der Anblick dieser fast topfebenen Weiten, das dominierende Gold der Getreidefelder die sich bis zum Horizont reihen, ist ein vertrautes Bild meiner Kindheit auf dem Dorf. Wie zuhause.
Die Monotonie der Kilometer hat fast etwas meditatives und so kann ich für einige Minuten im Kopf zu meinem alten Hund Freddy, meiner Abizeit und zu manch längst vergangenen Freund zurückreisen in Gedanken - Autogenes Training. Die Kilometer schmelzen dahin ...


Die Hitze ist fast unerträglich: WIe heiß mag das hier sein? 35 Grad im Schatten? Sicher. Aber hier, hier spendet kein Baum Schatten, Rückenwind haben wir, was angenehm treten lässt, allerdings auch kaum kühlende Wirkung hat. Unter meinem Rucksack hat der Hitzestau ein Feuchtbiotop entstehen lassen. Immer wieder rinnen Schweißbäche hinab. Meine Wasserflaschen leeren sich beängstigend schnell.

Irgendwann fahren wir durch einen dichten Wald. Ah, etwas kühler ... sehr gut!


Die Straße ist gerade. Wie mit einem Lineal gezogen geht es nur geradeaus. Leichte Wellen lassen kaum erkennen, was hinter der nächsten Kuppe ist und jedes Mal, wenn es wieder um einige Meter nach oben geht, bin ich ganz gespannt und sehne endlich jenes Chambord herbei: "Komm schon ... komm schon!", brülle ich dann voller Hoffnung nach vorn: "Monsieur Lieges, wo ist dein Chateau?"

Oh ...


"Wow!", staunen wir nicht schlecht, als wir merken, dass wir schnurstraks auf ein ... na sagen wir mal ... angemessenes Chateauchen zusteuern. Weiß schimmert eine Rokoko-Perle am Horizont, Zuckerbäcker-Zinnen, ein Schloss, wie es dem Sonnenkönig gut zu Gesichte stehen würde.

"Halt mal ...", stammle ich plötzlich und erinnere mich an die eine oder andere arte-Doku ... das Schloss kennste doch?! Ah, sicher! Chambord! Warum ist mir das nicht gleich eingefallen?!?


Chambord, na sicher doch! Es fällt mir wieder ein. Dieses Chambord gilt als das prächtigste aller an der Loire zu findenden Schlösser - im 16ten Jahrhundert von Franz dem Ersten erbaut, diente es als Jagdschloss, Ebenjener Sonnenkönig hat hier manch rauschendes Fest gefeiert und auch Moliere - wie ich später bei Wikipedia erfahre - durfte hier eines seiner Stücke uraufführen.

Es ist ein atemberaubend schöner Anblick.


Ich bin glücklich, dass wir aus Zufall diese Perle mitten im Wald gefunden haben, denn dieses Chambord hatte mich schon im Kunstunterricht beschäftigt und fasziniert: Immerhin verbirgt es in seinem Inneren jene zweiläufige Treppe, die mir bei einem Vortrag eine 1+ eingebracht hat.

Nur - Monsieur Lieges wird hier kaum wohnen.

Flow fragt eine nette Dame am Kartenschalter aus und kommt mit einer guten und einer schlechten Nachricht zu mir: "Die Gute ist, dass wir schon fast da sind ... die Schlechte ... es sind noch 10 Kilometer."

Ich könnte fast in Tränen ausbrechen.

Wir verlassen Chambord und fahren schweigend durch den Wald. Wieder geht es auf und ab. Ich könnte kotzen, könnte heulen. Ich bin wütend und sauer auf Flow, aber was kann er dafür? Meine Kilometeranzeige auf dem Garmin nähert sich der 160 - die längste Etappe bisher - und ich traue mich vor lauter Schmerzen gar nicht mehr, mich hinzusetzen: Blut könnte aus dem Sitzpolster schwappen.


Blut könnte allerdings auch spritzen, als wir endlich ankommen.
Endlich absteigen. Wir sind da.
Als ich meine Beine lockere, Flow am Klingelschild der Lieges den Taster drückt, schießt ein schwarzbraunes Kraftpaket zähnefletschend um die Ecke. Eine Bestie, bestehend aus Muskelpaketen und einem riesigen Maul.

"Whoaa!", ruft Flow und verharrt. Auch ich stutze erstmal.

Der riesige Höllenhund kann kaum bremsen und bleibt knurrend vor mir stehen. "Feiner Hund ... feiner ... ", meine ich und halte ihm meine Hand zum beschnüffeln hin. Flow versucht langsam, Abstand zu gewinnen. "Ja feiner Hund ..."
Schwanzwackeln. Sehr gut.

Dann dreht sich Zerberus um und fixiert Flow. "Oh backe!", stammelt der. Der Hund schwänzelt um Flow herum. Ich muss lachen: "Nicht zucken Flow, der beißt Dir ohne weiteres das Bein ab ..." Flow bedenkt mich mit einem Blick, den ich nicht kommentieren möchte.

"F...f...feines Hundilein...", versucht der es mit meiner Taktik.
Mit Erfolg: Der Hund hebt sein Hinterbein und pinkelt Hinterrad,Waden und Vorderrad an. Claim markiert. Ich muss mir fast in die Hose machen vor Lachen.

"Elliot!", ruft eine Damenstimme von nebenan den Hund zurück.
Ah, Menschen.


Drei Damen sitzen um einen Gartentisch. Sie passen auf den Hund auf.
Flow versucht mit Händen und Füßen den Damen zu erklären, dass wir zu Familie Lieges wollen.

"Oh, die sind arbeiten", antwortet eine.
"Ah, das ist ja doof. Können wir sie erreichen?", fragt Flow.
Eine Dame holt ein Telefon. Einige Minuten später haben wir die Erlaubnis, auf dem Grundstück warten zu dürfen.


Vor verschlossenen Türen sitzen wir 2 Stunden in der Sonne und vertreiben uns die Zeit.
Es ist unangenehm, in den verschwitzten Klamotten zu schmoren, aber mein Hintern dankt mir das Ende der Etappe und so ist es mir herzlich egal. Flow hingegen kann es kaum abwarten, sich aus den Klamotten zu pellen und springt auf einmal auf.

"Scheißwas, ich dusche jetzt hier!", ist er sich auf einmal sicher, hat einen Gartenschlauch in der Hand uns ist drauf und dran, sich auszuziehen.

Gottseidank kommt Monsieur Lieges um die Ecke.


Wi werden sehr freundlich, sehr höflich empfangen - obwohl wir bald spüren, dass die beiden anscheinend keinen Schimmer von unserer Ankunft hatten. Die Dame des Hauses, die wegen uns noch einmal extra einkaufen muss, versucht mit ihrem Mann in einer Ecke weitab zu diskutieren - Flow und ich schauen uns schulterzuckend an: Hat Fixe uns nicht angemeldet?

Wenig später aber ist der Ärger der beiden verflogen. Wir werden mit dem Riesenhund - Elliott - bekannt gemacht, Monsieur Lieges schmeißt den Grill an und haut Geflügel, die wundervolle Merguez-Wurst und frisches Brot auf den Rost, Madame tischt Wein, Pastis und einen wunderbar kühlen Cidre auf, auf den ich mich gleich stürze.


Es wird ein wundervoller Abend. Obwohl weder er noch sie Englisch sprechen und ein wahnsinnige schnelles Französisch haben, kann Flow recht gut mit ihnen kommunizieren. Je mehr Cidre ich trinke (irgendwann machen sie die zweite Flasche für mich auf), desto besser scheine selbst ich mit ihnen reden zu können: Obwohl ich nie Französisch gelernt habe!

Wir sprechen über unsere Route, den Trip, die Rennräder und Deutschland. Bis tief in die Nacht sitzen wir zusammen, die Glut im Rücken wärmt, auf der Leine hängen unsere nassen Klamotten zum Trocknen und auch Elliott freut sich augenscheinlich, zwei neue Spielkameraden gewonnen zu haben.



"Stell Dir das mal vor ...", meint Flow zu mir, als wir uns irgendwann satt und sichtlich angetrunken voneinander verabschieden um ins Bett zu gehen, "Stell Dir mal vor, das würde in Deutschland passieren: Zwei verschwitzte Typen stehen bei Dir vor der Tür und Du weißt von nichts - keine Chance! Und die hier? DIe kaufen extra ein, machen und tun ... fast schon peinlich berührend, diese Gastfreundlichkeit!"

Und Recht hat er - ebenso, wie man uns schon in Grenoble aufgenommen hatte, sind die Lieges so bemüht, uns eine angenehme Heimstatt zu schaffen, dass wir gar nicht wissen, wie wir uns bedanken können: So viel Gastfreundschaft ist berührend!


Glücklich. Angetrunken. Und sihtlich berührt verabschieden wir uns von den beiden. Wir dürfen im wundervoll ausgebauten Boden des 200 Jahre alten, liebevoll restaurierten Fachwerkhauses schlafen.

Ich mümmle mich ein, Flow neben mir hat noch etwas mit sich zu kämpfen, aber irgendwann schlafen wir tief und fest und zufrieden: Noch 2 Etappen bis Paris. Und irgendwie - vielleicht liegt es aber auch nur am Cidre - kann mich jetzt mein selbst wunder Hintern nicht mehr davon abhalten, langsam die aufkommende Euphorie ob der Champs Elyseés zuzulassen.