14. August 2011

Étape 7 Luz Saint Sauveur - Pau

Es ist ein ganz besonderer Tag.
Ich wache auf, blinzle in die Sonne, frühstücke mit besonders weit geöffneten Augen. Schaue hinaus: Gegenüber, um mich herum, die Berge. Beeindruckend groß, gnädig gewähren sie der aufgehenden Sonne gerade genug Himmel, um das Tal zu erwärmen.

Die Berge: Heute werden wir sie verlassen.


Wir sind guter Dinge als es gegen neun Uhr auf die Straße geht - es ist warm, der Himmel nicht bewölkt. Gerade so, als wollten uns die Pyrenäen mit ihrer besten Seite verabschieden. Gerade so, als wollten diese majestätischen Berge heute all die Tage im kalten Regen, all die Kilometer auf nassem Asphalt wieder gut machen.

Wir nehmen das Geschenk gern an.


Gestern haben wir mit unserer Königsetappe nicht nur 3 Berge der Tour de France bezwungen, sondern mit dem Tourmalet auch einen der härtesten und legendärsten Anstiege des Rennens gemeistert. Stolz steckt mir noch in der Brust, als ich in das weite Tal blicke, langsam einrollend: Und ich wundere mich, denn ich bin überrascht, wie gut sich meine Beine vom gestrigen Ritt erholt haben.

Immerhin stecken mehr als 3.000 Höhenmeter in ihnen.
Und einige Tausend noch von den Etappen davor.


Noch befinden wir uns auf der Abfahrt vom Tourmalet: In Luz Saint Sauveur war damit noch lange nicht Schluss. Rasant geht es bergab, uns passieren etliche Rennradfahrer, darunter ein beachtliches Peloton eines Jedermannrennens, begleitet von Sicherheitsfahrzeugen.

Neidisch bin ich auf die Jungs: Sie haben einen Heldenritt vor sich.
Und doch irgendwie auch nicht. Denn hier ohne zu treten mal locker die 40 km/h-Grenze zu brechen - und das noch einige Kilometer lang - hat Unwiderstehliches.


Immer wieder blicke ich mich um. Schaue zur Seite, nach oben, nach links, nach rechts - versuche so viel wie möglich von diesen Pyrenäen noch mitzunehmen. Die Schräge, die Hänge, die kargen Felskuppen - all das, der Blick nach oben, wird nach der heutigen Etappe Geschichte sein: Ich seufze.

"Genieße die Kilometer, Flow", rufe ich ihm zu.
Er nickt. Auch er weiß, dass es ab morgen flach wird. Allerdings vermute ich, dass ihm dieser Profilwechsel sehr viel mehr gelegen kommt, als mir.


Auf der Fahrt nach unten passieren wir einige Schneetunnel, dann und wann wird es richtig schnell und wieder frage ich mich, ob wir, die wir gestern ja auch zum Tourmalet hochgefahren sind, auch so eine lange steile Anfahrt hatten?

Hatten wir, versichere ich mir. Geht ja nicht anders.



"Das wir heute eine langweilige Etappe!", ruft mir Flow zu. Ich nicke.

Im Prinzip geht es eigentlich nur durchs Tal nach Nord-Westen. Die Stadt Pau - Tor zu den Pyrenäen - ist unser Ziel.

Wir müssen uns beeilen: Zwar ist die Etappe mit knapp über 100 Kilometern nicht sehr lang, aber die vielen Hügel, die wir heute fahren werden, könnten für etliche Höhenmeter sorgen. Schnell müssen wir zudem auch machen, weil wir für 16 Uhr einen Mietwagen gemietet haben, mit dem wir heute noch nach Bordeaux fahren wollen.

Eine langweilige Etappe? Also, für mich klingt das eher nach Stress.


In Argeles Gazost ist Markttreiben. Flow hält an und verwickelt wieder die halbe Händlerschaft in Gespräche - ich scharre ungeduldig mit den Cleats. Ich will weiter, will los. Irgendwie, irgendwas ... drängt mich.

Widerwillig setzt er sich aufs Rad und tritt rein.
Was ist mit ihm? Müde?
Sauer, dass ich dieses wirklich wunderschöne Städtchen schon wieder verlassen möchte?
Schon biegt er um die Ecke vor mir.
Ich muss mich sputen, ihn einzuholen.


Zunächst geht es in einem weiten Tal einige Kilometer fast eben über eine wenig befahrene Straße. Die Berge (täusche ich mich nur?) werden flacher. Dafür knallt die Sonne mehr herunter: Vorn tritt Flow mächtig aufs Gaspedal. Er hält den Speed wieder einmal irre hoch, angesichts der hohen Temperaturen finde ich das leichtsinnig, aber am kräftigen Tritt und aus den fast schon trotzigen, kraftvollen Bewegungen in seinem Becken schließe ich, dass er irgendwie Frust im Hintern hat.

Ich lasse ihn lieber mal kurbeln und halte meine Klappe.


Wir haben nach Westen geschwenkt, lassen immer mal wieder kleine Dörfchen hinter uns - und immer wieder biegen wir für kurze Abschnitte in den Wald ab, fahren dann kleine, aber sehr giftige Anstiege nach oben, balancieren dann durch umwerfend dichtes Grün entlang der Abhänge, um dann wieder kurz und rasant nach unten zu schießen, wo wir uns dann wieder auf unserer langweiligen, flachen Straße wiederfinden.

Flow gibt dermaßeen Gas, dass er mich langsam fuchtig macht: Warum fährst Du wie ein Bekloppter hier die Anstiege hoch? Was bringen Dir diese Zwischensprints? Irgendwann ist es mir egal: Soll er doch fahren ... irgendwann wird er sicher an einer Kreuzung ankommen, nicht wissen, wohin er abbiegen soll und auf den Mann mit dem Garmin warten. Müssen.


"Irgendwas war da ...", murmle ich vor mich hin, als wir wieder mal im Team fahren.

Da war doch was ... ich versuche mich an die Planung daheim in Hamburg zu erinnern. Habe ich nicht doch noch irgendwas eingeplant? Kann das sein, dass ich diese fantastische Bergetour einfach so langweilig beim Fahren durch ein Tal enden lasse? Oder ... oder ... habe ich nicht doch irgendwie irgendwas an der Strecke geschraubt?

Habe ich! Ich grinse breit über beide Lippen: Flow schüttelt ungläubig den Kopf. Er glaubt mir nicht. Oder will mir nicht glauben.


Nur eine Minute später stoppt eine mächtige Rampe unseren Vortrieb: Ich muss jubeln. "Gott segne mich!", rufe ich in die Vertikale - da habe ich uns doch tatsächlich noch einen Berg in den Track eingebaut, ich Fuchs! "Haaaa, geil!", frohlocke ich, als ich aufs kleine Blatt schalte, Flow hinter mir hält erst einmal an: "Ich muss pissen!", hält er die Situation fest.

Ihn, der er Berge nicht mag, gefällt das gar nicht.

Vor mir kämpft sich ein anderer Rennradler den Berg hinauf: Ich nehme Witterung auf und trete rein. Cool - doch noch ein Berg!



Immer wieder überhole ich andere Radler: Teilweise strampeln sie sich mit Schwindel erregenden Trittfrequenzen den Berg hinauf: Dreifachkurbel sei Dank.

An den Seitenschildern steht "Col de Soulor" - ein mir gänzlich unbekannter Berg, keine Ahnung, warum ich den hier eingebaut habe, noch nie von einem Soulor in Verbindung mit der Tour de France gehört.

Aber mir ist das egal: Ich erfreue mich an der Aussicht auf eine Stunde Bergarbeit, freue mich auf klare Bergluft, auf das Panorama, auf den Pass und die Abfahrt. Plötzlich wird die ach-so-langweilige Etappe, die mich aus den geliebten Bergen bringen wird, also doch noch interessant: Zwar keiner von den fetten, berühmten Bergen, aber immerhin. Höhenmeter zum Abschied.


Der Soulour erweist sich dennoch als richtig hartnäckiger Bursche. Es geht direkt unten auf den vielen kleinen Rampen schonmal mit bis zu 9 % los. Langsam kurbele ich mich nach oben, Helm ab, wie immer, die Schirmmütze je nach Sonnenstand hochgeklappt oder tief ins Gesicht gezogen.

Ich muss mich zusammen reißen, jetzt hier nicht bergan zu stürmen: Immerhin wird das der letzte Pass unserer Tour. Genießen, Alter, genießen!


Im Mittelstück wird es dann flacher. Die Schilder künden nur noch von 5 bis 7 % und so knacke ich auch mal wieder die 20 m/h-Grenze. Hier führen sie uns über eine extrem schmale Straße: Jedes Mal, wenn mir ein Caravan entgegen kommt oder mich überholen will, hängt eine Seite gefährlich über dem Abgrund. Schmale Straße - wie muss das hier nur auf einer Abfahrt sein?

Langsam schraube ich mich die Höhe hinauf. Neben mir tauchen immer mehr kahle Felskuppen auf, überwältigend schön: Das dicht besiedelte Tal, aus dem wir gerade gekommen sind, weicht zurück hinter einer menschenleeren Kulisse.
Grandios wie immer.
Ich lächle unter meinem Schweißgesicht.


Die Schilder künden davon, dass es nun nur noch 8 Kilometer zum Pass seien: Plötzlich zieht der Prozentsatz der Steigung wieder an. Auf die 5 bis 7 % schaufeln sie jetzt bis 11 % noch einige Zähler drauf. Ich werde wieder langsamer, muss mehr Kraft auf die Pedale bringen.

Wo bleibt Flow?

Ich drehe mich ab und zu um, versuche ihn zu erspähen, aber der scheint sich unten noch mit Wasser versorgt zu haben, reime ich mir seinen Rückstand zusammen: Flow trinkt viel. Wo ich mit zwei Flaschen bei größter Hitze 80 bis 100 km aushalte, braucht er das doppelte.


Immer einsamer wird es auf dem Weg nach oben: Andere Radler treffe ich hier keine mehr. Links von mir warten saftige Almen auf ihre Schafe und Kühe, rechts von mir kann ich meinen Kopf gar nicht so steil in den Nacken legen, so hoch ragt die Felswand auf.

Fast geradeaus schlängelt sich die Straße vor mir zum Pass über den Soulor. Die Sonne brennt nun unerbittlich heiß auf uns hinab: Langsam geht auch meine zweite Wasserflasche zur Neige. Hoffentlich haben sie oben eine Hütte.


Die Straße zieht nun richtig an. Auf den letzten 4 Kilometern - ich fühle mich an den Tourmalet gestern erinnert - geht es noch einmal richtig zur Sache. Von hinten sehe ich einen Rennrad-Fahrer im Dress von HTC-Columbia 2009 heranstürmen - wieselflink wie Alberto Contador balanciert er sein Rad hin und her und holt Meter um Meter auf.

Als es dann die letzten 1.000 Meter über drei, vier Serpentinenschleifen geht, hat er mich endgültig ein: Hier oben sind die Steigungsprozente wieder zweistellig. Columbia-Contador kann mich mühelos abzocken.

Nach dem Garmin-Cervélo-Profi am Mont Ventoux der zweite Rennradler, der mich überholt - der zweite der ganzen Tour!

Sie werden die Einzigen bleiben.


In einer der Serpentinen kann ich dann unter mir auch Flow erkennen. Er mag rund 5 Minuten Rückstand haben: Komisch aber, wie diese gefalteten Bergstraßeen diesen optisch auf scheinbar wenige Meter verkürzen können. Ich winke ihm, als ich das Foto mache, aber er schint zu konzentriert (zu sauer?), um zurück zu winken.

Vor mir schießt die gelbe Rakete weiter bergan: Der Pass ist oben schon deutlich auszumachen.


Vor mir gibt der Columbia-Mann nun richtig Gas - reißt das Bike von links nach rechts, knarzend haut er zwei Gänge rein und sprintet mit einem atemberaubenden Tempo davon. Schon nach wenigen Sekunden hat er einen riesigen Vorsprung auf mich herausgefahren.

So, denke ich mir, muss sich das also anfühlen, wenn die Profis am Berg ihre Attacken setzen: Von einem Moment auf den nächsten mit voller Power davon stürmen. Gerade hier, am Hang, kann man so einen Vorsprung heraus fahren, für den man im Flachen sehr viel mehr arbeiten müsste.

Eine clever gesetzte Attacke - hier im Berg, wo die Gegner unter Umständen eh schon fertig sind, das ist der Todespunch für die Verfolger. Lehrstunde beendet.


Dann biege auch ich in die letzte Linkskurve ein, es sind noch vielleicht 100, 200 Meter bis zum Pass des Soulor, in blinzle in die Sonne, schaue mich um: Wo ist Flow? Nicht auszumachen.

Dann gehe ich auch kurz aus dem Sattel, schalte wenigstens einen Gang hoch, wuchte mich in die Pedale, wenigstens hier, noch ein letztes Mal, noch einmal den Held gespielt, hier, am letzten Berg und dann, dann bin ich oben.

Ziel erreicht.

Letzter Gipfel erklommen.

Steht mir da einen Träne im Auge?


Am Soulor ist was los: Hier gibt es ein kleines Plateau, etwa ein Dutzend Rennradfahrer haben den Aufstieg nach hier oben auch geschafft. Ich parke mein Rad bei der Hütte und kaufe mir zwei eiskalte Orangina: Belohnung für diesen letzten Aufstieg.


Das Panorama indes ist grandios: Die Abfahrt verspricht lang zu werden: Ich kann bis zum Horizont nur unbewohntes, bewaldetes Gebiet ausmachen: Da hinten schlängelt sich eine Straße dünn am mächtigen Berggipfel entlang.

Sehr leer sieht es hier aus: Verlassen irgendwie, nicht erschlossen. Sind das also jetzt die berühmten "unangetasteten" Pyrenäen, von denen ich so viel gelesen habe?


Am Soulor sind es Schafe, die sich blökend unter die Hobbysportler mischen. Immer wieder zieht ein Zottelviech mampfend an unseren Carbongefährten vorbei: Ich nehme mir vor, auf der Abfahrt nicht auf einem Fladen auszurutschen. Das stelle man sich mal vor: Am letzten Berg, auf der letzten Abfahrt auf Schafskacke gestürzt.

Das glaubt einem ja keine Krankenkasse.

Ich laufe so herum, auf Flow wartend, als ich vor einem Schild stehen bleibe - und mich plötzlich der Schlag trifft!

Mein Puls schießt auf 200 hoch!

Das kann ... das kann doch nicht wahr sein!

Verdammt - wie geil ist das denn?!?

Ich flippe aus ... ein breites Grinsen zieht sich von links nach rechts:



Cold de Soulor. Col de was? Dieser Soulor war nur das Vorspiel. War nur eine Stufe, ein Teaser, etwas Kleines zum Anfüttern - ein Hors d´Ouvre. Wo es eigentlich hingeht heute, das ist der Aubisque!

"Ach wie geil!", rufe ich Flow freudig zu, als er die Kuppe erklimmt. Sein Gesicht rot, prustet er beim Ausklicken und schaut mich aus leeren Augen an: "Was?", fragt er leicht benommen.

"Ich bin der beste Tourenplaner aller Zeiten!", frohlocke ich und tänzle zu meinem Cervélo: "Das hier ist nur der erste Gipfel - wusste ich es doch! Wusste ich es doch, dass ich noch einen fetten
Hammer eingebaut habe!"
"Was denn für einen Hammer?", fragt er - noch immer kapiert er wohl nicht ganz, was wir da vor uns haben.
"Na den Aubisque", sage ich und deute auf den Abhang vor uns - da hinten irgendwo, da, wo sich die dünne Straße in den Abhang frisst, da muss es nochmal 400 Höhenmeter nach oben gehen.

Geil! Noch mal 400 Höhenmeter!


"Wird wohl doch nicht so langweilig heute ...", rufe ich ihm zu, als ich einklicke und losfahre.

Knallend rattert die Luft in meinen Ohren, als ich mich in die kurze, etwa 5%ige Abfahrt stürze. Mit 60 km/h geht es direkt am Abhang - unter uns eine weite Alm - hinüber zum Berg, der dem Soulor gegenüber liegt. Dann wird die Straße eben und beginnt nach einigen hundert Metern leicht anzusteigen: Es sind noch 9 Kilometer bis zum Gipfel des berühmten Aubisque.


Der Anblick lässt mir fast das Blut in den Adern gefrieren: Mit offen stehendem Mund fahre ich am Rand des Berges, immer weiter öffnet sich rechts neben mir das Tal, immer weiter bleibt der Soulor zurück und immer tiefer geht es nun neben uns bergab.

Flow behagt es gar nicht: Er fährt, auch wenn es ihn auf die gegnerische Fahrbahn bringt, ganz nah am sicheren Felsen.


Hier haben Sie eine Straße mitten in den Fels gefräst - dann und wann müssen wir Felsbrocken und Steinen ausweichen. Fahrer, die uns entgegen kommen, sind ebenso beeindruckt, wie wir.

Ich fahre ganz nah am Abgrund neben mir: Kein Berg auf dieser ganzen Tour hatte mich je so nah an den Abgrund gelassen, nie lag der Boden jemals so tief unter mir.


Fast senkrecht geht es hier einige hundert Meter in die Tiefe: Ich muss aufpassen, dass mir beim Durchfahren einer Kurve und gleichzeitigem Drehen den Kopfes nicht schwindelig wird. Ich juchze und schreie - ich jodle und brülle: Dass ich dann hier doch noch einen Berg der Hors Categorie eingebaut habe und dann noch diesen Knaller ... unfassbar!

Und da dachte ich schon, das wäre hier heute eine langweilige Etappe!


Es kommt mit jedem Meter geiler: Vor uns taucht ein mächtiger Felsen auf - wie immer, fast senkrecht in den Himmel ragend - und die Straße führt abenteuerlich durch ein grob in den Stein gesprengten, kleinen Tunnel. Corniche!

Als ich Fahrt aufnehme, erhasche ich nur einen schnellen Blick auf Flows beinahe kreideweißes Gesicht: Das hier behagt ihm alles ganz und gar nicht.


Nur eine kleine, kaum 20 Zentimeter hohe Mauer trennt mich vom senkrecht abfallenden Grat. Hier mag es 500, 600 Meter tief nach unten gehen. Ein Fehler und das war es dann auch schon.

Im Tunnel ist es kurzzeitig angenehm kühl - aber Obacht: Die nassen Betonplatten, die sie hier als Asphalt-Ersatz nur grob auf dem Boden verlegt haben, weisen mehrere Zentimeter breite Fugen auf. Ich habe keine Zeit, meine Sonnenbrille abzunehmen und kann nur im Blindflug das Beste hoffend durch die Röhre schießen.


Ich blicke mich um: Geradezu sanft, gezähmt irgendwie wirkt der Blick auf die Straße, die wir vor wenigen Minuten noch befahren haben: Kein Vergleich zu den kargen, brutalen Felsen, auf denen wir jetzt balancieren.

Abenteuerlich windet sich die Straße leicht ansteigend an der Wand entlang. Wir fahren mit über 20 km/h, übertreiben es aber auch nicht: Hier ist es viel zu schön, viel zu atemberaubend, viel zu einmalig, als es im wilden Blindflug bei Maximalspeed links liegen zu lassen.


Auf jedem Meter sauge ich jetzt ein, was die Landschaft hier zu bieten hat: Wahrlich, der Aubisque ist der schönste aller Pässe, die wir auf dieser Tour gefahren sind! Kein Alpe d´Huez - obschon mehr Legende, auch kein Tourmalet - obschon wesentlich härter, und auch kein Ventoux - obschon viel emotionaler können dem, was diese Panoramen hier auffahren, nichts Vergleichbares entgegen setzen.

Der Aubisque ist der König der Berge!


Nachdem wir die steilen Wände hinter uns lassen, schwenkt die Straße langsam auf einen der riesigen, mit Gras und stellenweise Wald bewachsenen Berge zu. Noch immer ist die Steigung sehr moderat, viele flache Passagen lassen uns ab und zu extrem beschleunigen: Ich frage mich, wie lange der Aubisque noch warten will, immerhin stehen hier noch 400 Höhenmeter an.



Wir holen eine Gruppe von lose fahrenden Rennradlern auf, manche überholen wir, manche geben noch Gas und stürmen vor uns die ersten Schrägen hinauf. Euch bekommen wir auch noch, denke ich mir und blicke mich um.

Hinter mir kurbelt Flow. Kopf gesenkt, ab und zu zwingt er sich, nach rechts zu schauen. Aha, auch er genießt es hier also augenscheinlich auch. Gut so: Ab morgen wirds flach!


Ich erspähe, als es das erste mal ernsthaft steiler wird, einen wohlgeformten Mädchenhintern auf einem Rennradsattel vor mir. Ah, feiin, denke ich mir und radle eine Zeit lang hinter ihr her. Ach, es gibt kaum etwas schöneres, als stramme, braun gebrannte Rennradlerwaden und eine enge Lycra-Hose auf einem dünnen Rennradrahmen.

Als sie sich das dritte mal umdreht und mich verwirrt anschaut, gebe ich lieber Gas, ehe sie sich noch belästigt fühlt. Schnell lasse ich sie hinter mir: "Bonjour Mademoiselle", grüße ich sie und bin weg.


Je höher wir kommen, desto klarer wird die Luft, desto öfter möchte ich dem Impuls nachgeben, anzuhalten, mir einen Klappstuhl aufzustellen um ein paar Stunden einfach nur dazusitzen, um mir jedes Detail einzuprägen, alles in mir aufzusaugen.

Es ist so atemberaubend schön hier ... und das am letzten Tag in den Bergen.


Bald wird es knackiger. Nun kommen sie also, die Rampen hinauf zum Gipfel. Die Tritte gehen langsamer, wir krampfen und jetzt mehr in unsere Lenker, kleines Blatt, größtes Ritzel: Der Kampf hat begonnen.

In gewohnt hohem Gang kurbelt sich Flow den Hang hinauf. Er bleibt hinter mir zurück - wie immer trete ich schneller, komme leichter die Steigung hinauf.


Das Betonmäuerchen als Begrenzung ist auch weg, nun trennt hier nichts mehr den unaufmerksamen Radler, den allzu rasanten Motorradpiloten oder den flatterhaften Caravanfahrer vom ultimativen Absturz in den Abgrund.

Grandios ist der Ausblick allemal.


Nun ist es auch anscheinend nicht mehr weit zum Pass: Ich kann sehen, wie sich die Straße nur leicht ansteigend vor mir um einen Bergvorsprung wickelt: Dahinter muss dann schon irgendwann das Ziel befinden.

Schade: Schon zu Ende?


Hinter mir wirft die mächtige Felswand dunkle Schatten - wie Ameisen klein kämpfen sich die Rennradler auf dem schmalen Grat nach oben. Im Hintergrund, wie eine Kulisse im Theater der Götter, weit entfernt, andere Berge. Die Pyrenäen, wie sie wohl seit Jahrtausenden die Menschen verzaubern.



Flow ist schon außer Sichtweite: Wie am Ventoux, wo ich mitten im Anstieg, mitten in der kochenden Gluthitze, wo alle anderen froh waren, nicht in der Schräge stehen zu bleiben, irgendwie meine Kraftreserven locker machen konnte - und allen davon gefahren bin. So ist es jetzt: Ich trete rein, ich bringe richtig Power aufs Pedal und kann hier bei 8, 9 Prozent Steigung mit 17, 18 km/h den Berg hinauf stürmen.



Schon sehe ich über mir die letzte Rampe (denke ich mir so) - wie sich sich so steil nach oben windet. Über der Straße thronen weiße Kühe, grasen in luftiger Höhe und wundern sich vielleicht mal über all die bunten, verrückten Typen, die sich hier hinauf quälen.


Da sehe ich auf der gegenüber liegenden Serpentine Flow sich hinauf schrauben - ich pfeife so laut ich kann. Er sieht mich und winkt: Er wird hier, wo ich gerade stehe, erst in 10 Minuten sein. Zeitreise am Berg.

Vor mir überquert eine träge Herde Gipfelkühe die Straße - anders als am Col de Vars habe ich nun keinen übertriebenen Respekt vor dem Nutzvieh und schlängle mich zwischen den treu schauendem Milchtieren hindurch: Oben sehe ich schon den Pass.


Es sind die letzten Schleifen, die ich mich hochschrauben muss, die letzten Meter, dann doch, final und endgültig - dann war es das, dann soll es das endgültig gewesen sein: In Pau wartet ein Mietwagen auf uns und hier, hier und heute, gleich da oben, ist Schluss. Das wars.

Die vertikale Tour de France, meine Petite Boucle, wird hier oben ihr Ende finden.


Fast wehmütig ergriffen zelebriere ich nun die letzten Meter. Gut, dass ich hier allein fahre, gut, dass ich hier mit meinem Rad, dem knarzen im Tretlager und meinen angestrengen Atemstößen unter mir bin. So sauge ich den Geruch der Alm in mir auf. Grinse ins Weit der Pyrenäen - nehme Abschied.


Wie, als fahre ich in den Himmel, biegt die Sraße noch einmal nach links ab.
Wie, als müsse der Berg, den ich hier ab dem Soulor als eher harmlos empfinde, mir noch beweisen, dass er seinem Prädiklat "1" würdig ist, schmeißt er mir noch eine saftige Rampe unter die Laufräder.

Hinter mir bleibt die Hochalm zurück ...


... vor mir schreiben sie schonmal Botschaften auf den Asphalt.

Fragt sich bloß, wer hier wen heiraten will. Eine Profifahrerfreundin ihren Liebsten? Eine Hobbyfahrerfreundin ihren Helden? Egal - Ansporn ist es allemal.


Ich gehe aus dem Sattel - schaue nach oben, schalte einen Gang hoch und sprinte die letzten 100 Meter bergan. Dann bin ich da.


Auf der Passhöhe klinke ich aus, parke mein Cervélo und muss mich erst einmal umsehen: Mir gegenüber, auf der Seite, wo wir gleich abfahren werden, protzt das Gebirge mit einer stattlichen Felswand. Staunend fotografiere ich.

Links von mir begrüßen riesige Rennräder in den Farben der Maillots die Hobbyradler - und die Profis, die hier in weniger als 4 Wochen durchkommen werden. (Mit Cervélo und Thor Hushovd auf dem S5 als Verfolger, der einen epischen Triumph in Lourdes feiern wird.)


Ich schlendere hinüber zu den Souveniershops - Flow ist lange noch nicht in Sicht. Viele Rennradler (komisch, wieder wesentlich mehr "ältere" Radler mit ihren klassischen Stahlrössern als Jungspunde mit ihren hochgezüchteten Carbonwaffen) haben ihre Räder einfach in den heiligen Rasen gelegt, sich ein Eis gekauft und liegen im Gras herum, genießen die Höhensonne und blinzeln nach unten: Für viele steht nun die Abfahrt in einen von Europas wichtigsten Pilgerstätten an: Lourdes.

Für uns nicht. Wo bleibt eigentlich Flow? Nicht, dass ihn eine Kuh vom Asphalt gekickt hat ...



So stelle ich mich kurz vor ein Plakat, das die Profis hier begrüßen wird und freue mich - stelle mir vor vor, wie es dann sein wird, wenn die Karawane hier durch kommt, wenn Tausende die Hänge säumen und sich ihre Stimmbänder wund schreien werden.

Drinnen im Shop kaufe ich mir kitschige Postkarten.
Hier, das weiß ich, werde ich so schnell nicht wieder herkommen können.


Dann kommt auch Flow oben an.

"Alter!", ruft er mir begeistert atemlos zu: "Wie geil ist das denn?!?" Er ist ganz aufgewühlt, fast euphorisch - und dabei mag er Anstiege so gar nicht. "Ey, ich dachte, ich falle da den krassen Abhang runter!", sprudelt es aus ihm hinaus, "Und diese Aussicht erst! Wow, krass - das ist der geilste Berg ever! Wirklich!"

Dem habe ich nichts hinzuzufügen.


Nachdem wir uns auf der Terrasse einen Cappuchino und ein Stück Kuchen gegönnt haben, machen wir am Passstein das Siegerfoto - das letzte dieser Tour. Von hier ab wird alles flacher. Von hier ab wird nun alles anders werden.


Wir kommen mit einem älteren Herren in einem klassischen Italo-Trikot ins Gespräch: Auf Englisch erklärre ich ihm die Funktionsweise meiner Handycam.
Irgendwann hört er, wie Flow mir etwas auf Deutsch sagt.

"Ach, Ihr seid Deutsche?", fragt er.
"Jo, sind wir."
"Ich auch", freut er sich: "Ich war 30 Jahre lang Lehrer in Elmshorn.", erzählt er uns. Dann ist er in Pension gegangen, hier her nach Argeles Gazost gezogen und streift nun mit seinem stählernden Bianchi durch die Pyrenäen.

"So möchte ich meinen Lebensabend auch verbringen.", gestehe ich Flow, als der nette Herr uns abgelichtet hat.


Wir halten uns nur 30 Minuten hier auf dem Gipfel auf: Die Zeit drängt. Der Mietwagen in Pau soll bis 16 Uhr abgeholt werden. In der Bestätigungsmaiul steht, dass, holten wir ihn nicht pünktlich ab, er nach einer gewissen Zeit weiter vermietet werden würde.

Gut. Es wären "nur" 60 Euro Schaden. Aber 60 Euro, das ist eine Nacht in einem schönen Doppelzimmer. Muss nicht sein.

Also auf: Ab in die Abfahrt!


Das schöne: Wir sind von Osten her auf den Aubisque geklettert: Ein Kategorie 1-Aufstieg mit durchschnittlich 4,1 %. Die Abfahrt aber - immerhin 16 Kilometer lang - ist "Hors Categorie" und mit 7,1 % Schnitt und maximalen Rampen von 10 % extrem steil: Es verspricht schnell zu werden!


Und das wird es auch: Wahrscheinlich in Erwartung der Tour de France haben sie hier anscheinend erst kürzlich einen vorzüglichen Asphalt verlegt. Kein Rollsplit (wie am Tourmalet) und auch keine Schäden im Belag trüben den Abfahrtspaß.

Ein letztes Mal lasse ich die Bremsen los.
Ein letztes Mal lasse ich rollen.
Ein letztes Mal komme ich an die 70 km/h heran.


Hier oben am Aubisque kann man den Verlauf der Straße sehr weit im Voraus einsehen - so können wir es locker angehen lassen und uns rasanter, vielleicht etwas risikoreicher als sonst, in die Schräge begeben. Meine Top-Speed knackt mit 64 km/h zwar nicht den Tour-Rekord, aber es ist auch so rasant genug.

Wir jubeln in der Abfahrt. Ein herrliches Gefühl!


Die Abfahrt nach Lauruns dauert nur wenige Minuten. Immer wieder halte ich an, versuche, dieses tolle Panorama einzufangen - Flow fährt vorneweg und versucht, im Gegensatz zu mir, in seinen Bike-Computer eine neue Geschwindigkeitsmarke zu brennen.

Komisch, warum bin ich atemlos, wo ich hier doch gar nicht treten muss?


Vor Lauruns geht es noch einmal sehr steil bergab - der Bremsweg ist überlang, fast zu vorsichtig verzögere ich, schleiche fast um die sehr engen Kurven. Unten halte ich erst einmal an und muss in den Bach pinkeln: Es war mir gar nicht bewusst, dass ich hier schon zum Platzen voll war.

Ständig flirren beim Strullen Rennrad-Piloten an mir vorbei. Irre, dieser Speed!


Ein letzter Blick nach unten, Lauruns liegt unter uns. Idyllisch. Ich seufze: Wenige Höhenmeter noch, dann wird es wesentlich anstrengender werden, vorwärts zu kommen.

Aber so, wie Flow hier mit den Hufen scharrt, muss ich mir wohl um den Vortrieb keine Sorgen machen ...


Tja. Und dann geht es los. Flow tritt in die Pedale, schon nach wenigen Umdrehungen ist er auf dem großen Blatt. Er stürmt vor mir weg, ich muss, wie immer, hart in die Pedale steigen, um in seinem Windschatten folgen zu können - die Lokomotive hat ihren mächtigen Motor angeschmissen und kommt langsam auf Hochtouren. Wir haben 35 Kilometer vor uns. Und ich eine Menge Spaß, denn Flow will hier heute wohl einen neuen Rekord im Zeitfahren aufstellen.

Immer wieder muss er auf mich warten.



Flow gibt so Gas, dass mir der Schweiß in Strömen unter dem Helm hervor läuft. Die Sonne steht hoch oben, es ist brütend heiß. Flow schaut immer wieder zu mir - und dann auf die Uhr.

"Los, Digger, zieh!", Recht hat er. Es ist um drei und wir haben noch einige Kilometer vor uns.

Die Straße wird immer voller. Irgendwann drängeln sie sich an uns vorbei, Auto um Auto, LKW um LKW - vorbei die Idylle einer menschenleeren Pyrenäenetappe - wir sind wieder angekommen in der Zivilisation. Wieder unter Wölfen. Die sich um die Fahrbahn streiten.

Wir quälen uns nach Pau hinein - ein ellenlanger Anstieg. Mir brennen die Schenkel. Wasser habe ich auch keins mehr. 15:45 Uhr und wir wissen nicht einmal, wo der Autoverleih ist. Selbst für das wunderschöne Pau habe ich keine Augen - mir hängt die Zunge aus dem Hals.

Flow. Echt. Du bist der Hammer. (In der Ebene :-)


Der Autoverlei entpuppt sich als eine Tankstelle in der Innenstadt. Ein netter junger Herr weist uns mit seinem iPhone den Weg, der nächste junge Herr ist hinter dem Tresen mit den Verleih-Formalitäten anscheinend etwas überfordert.

Es dauert 50 Minuten, ehe wir den Autoschlüssel haben. Bis dahin stinken wir in unseren durchnässten Klamotten die Tanke voll, Wasser sammelt sich in meinen Schuhen und Flow hat bereits den dritten Kakao aus dem Regal getrunken.

Draußen muss ich staunen: Wir haben das kleinste Auto der Welt gemietet.


Ich muss schon schmunzeln über Flows Spartick: 66 Euro kostet uns diese lustige Kiste.
Für 80 Euro hätten wir einen Golf bekommen.

Mit Platz.

Der Witz an der Sache ist, dass wir unsere Räder ohne Probleme in den Fond der Minimaschine bekommen und dabei noch genug Platz haben, um unsere geschundenen Beine auszustrecken.

Kurz vor 18 Uhr trete ich auf das Gaspedal: Bye bye Pyrenäen!


Wir werden ein paar Stunden später Bordeaux erreichen.
Die Fahrt wird langweilig sein.
Und heiß.

Wieder muss ich schmunzeln, als wir ankommen: Flows Sparzwang, die Zweite.

Wir haben das billigste Hotel der Stadt. Nicht an der Gironde. Sondern am Flughafen. Direkt am Flughafen.

Aber hey: Ich schlafe schnell ein und kann träumen.

Vom Aubisque. Von Corniche, der Bergstraße, den Höhenkühen und dem wunderbarsten Berg der Tour. Dem fantastischen Col d´Aubisque.