14. August 2011

Étape 8 Bordeaux - Royan

"Gut geschlafen?", fragt mich das nette dickliche Mädchen an der Rezeption unseres Flughafenhotels. Ich grinse: "Oui Mademoiselle, merci bien."
Und lüge sie an.

Tatsächlich habe ich noch keine so schlimme Nacht wie diese verbracht: Weder die Nacht nach dem Schneetrip über den Bonette noch Flows gelegentliche Schnarch-Attacken waren dem, was hier heute Nacht abging, gewachsen.

Wir wohnen im kleinsten Hotel Bordeauxs.


Rund um den Flughafen gibt es - in jeder Stadt auf der Welt - die billigsten Hotels. Klar: Wer will schon bei Fluglärm und Kerosingeruch nächtigen?

Da wir es mit der Kohle beide nicht so dicke haben, hatten wir uns gestern, nachdem wir das Mietauto abgegeben und uns zwei, drei Stunden im (übrigens wunderschönen) Bordeaux herumgetrieben hatten, dazu entschieden, in Flughafennähe was zu suchen.

Nein, kein "Holiday Inn". Auch kein "B&B" oder "Etap". Nein, wir haben das billigste vom Billigen gefunden: Das "Aero Grill".

Unser Zimmer ist gerade einmal zwei Radlängen breit. Dusche und Klo sind eins - die Nasszelle ist nicht einmal durch eine Trockenbauwand von den Betten getrennt. Lediglich hölzerne Sichtblenden, gerade mal 2 Meter hoch, "trennen" das Zimmer vom Klo. Herrliche Aussichten - wer in Ruhe das Geschäft erledigen will, muss den Anderen bitten, den Raum zu verlassen.

Ich habe so richtig kacke geschlafen. Für 39 Euro.

Als wir endlich aufbrechen, bessert sich meine Laune schlagartig: Heute geht es ins Haute Medoc, dem bekanntesten und teuersten Weinanbaugebiet der Welt. Fur den gelernten Hotelfachmann Flow ein Lebenstraum.

Allerdings stoppt eine Scherbe im Außenbezirk Mergnac unsere Fahrt nach wenigen Kilometern.


Es ist gerade 10 Uhr und schon brennt die Sonne unerbittlich auf uns nieder: Flow hat seine erste Flasche schon ausgetrunken, als er im Schatten eines Apfelbaumes den Ersatzschlauch aufzieht.

Kein Wunder, denke ich mir, dass es ihm passiert. Flow fährt, als seien seine Pneus von Eddy Merckx persönlich gesegnet und gegen alle Steinchen, Scherbchen, Risse und Kanten des modernen Straßenbaus immun. Er donnert Bordsteine herunter, dass es mir um die Carbonfasern Leid tut, lässt keinen Gullydeckel aus und fährt scheinbar auch wenig vorausschauend, was das Ausweichen vor Glasscherben angeht. Nun hat er den Salat.

"Äh, willste den nicht vorher aufpumpen und sehen, ob alles gut ist?", frage ich ihn, als er das Laufrad wieder einbauen will.
"Ach Quatsch! Warum denn?"

Nach 7 Minuten schweißtreibender Pumpaktion mit meiner Minipumpe hat er den Reifen wieder halbwegs unter Druck. Er stößt ihn an, auf dass er sich testweise drehe ... und mit einem lauten "Pfffffff!" platzt der Schlauch wieder. Diesmal ist auch der Mantel hin.

Das Grinsen bleibt mir im Halse stecken: Es ist unser einziger Ersatzschlauch gewesen.
Und es ist Sonntag: Offen hat hier nichts!


Wir warten etwa eineinhalb Stunden in der sängenden Sonne, bis uns Chuck, ein freundlicher Algerier, der schon das zweite Mal vorbei kommt, eine Flasche kaltes Wasser und Äpfel bringt.

Während ich via Twitter versuche, die lokalen Rennradfahrer mit Mänteln und Schläuchen zu unserer Adresse zu lotsen (was nicht klappen wird), halten wir so ziemlich alles und jeden an, der nur entfernt nach Rennrad aussieht.

Denn auch nachdem ich etwa 20 Kilometer in Bordeaux auf der Suche nach einem geöffneten Fahrradshop zurück gelegt habe, sind wir keinen Zentimeter aus unserer bescheidenen Lage heraus gekommen: Es ist heiß, mein Magen knurrt mittlerweile und wenn das so weiter geht, habe ich keinen Bock mehr auf diese Scheiß Etappe!


"Ein Glück, dass das nicht bei der Abfahrt vom Tourmalet passiert ist!", sat Flow.
Recht hat er. Und trotzdem könnte er mehr darauf achten, wo er lang ballert! Ich ärgere mich.

Ein Herr hält. Feines Auto. Toller Zwirn. Ein Reicher.
Er fragt, ob er helfen kann. Wir so: "Ja, klar: Hast du zufällig einen Rennradmantel und einen Schlauch?" Er so - nein, aber er fahre privat auch Rennrad und wolle jetzt mal alle seine Freunde anrufen. Ja klar, bedanken wir uns und wissen, dass wir den Herren nie wiedersehen werden. Winkend fährt er davon. Wir sinken wieder auf den heißen Stein.

Nach fast 2 Stunden ist mein Hirn Matsch. Ich sinniere: "Wie geil wäre das ... wenn jetzt da um die Ecke ... ein Werkstattfahrzeug der ... der Tour de France käme ... so voll ausgestattet ... und so ..."

Und um die Ecke biegt der Wagen des Velo-Club Merignac, des ansässigen Rennrad-Vereins.


Der Fahrer fährt sofort rechts ran, erkennt die Lage, steigt aus und weiß auf den ersten Blick, was zu tun ist: Flow soll sein Rad hinten reinwerfen, die beiden fahren davon.

Ich bleibe mit Chuck zurück, der nun gar nicht mehr gehen will und mir die Geschichte seiner Flucht aus Algerien, seines Jobs als Animateur und seiner Familie erzählt. Er fragt, ob ich noch Wasser bräuchte (ich brauche) und ob ich Hunger hätte (ich habe) aber ich bin zu schüchtern, ihn zu bitten, mir ein Mittagessen zu kochen.

45 Minuten später ist Flow wieder da. Gut gelaunt räumen er und sein neuer Velo-Freund das Rennrad aus dem Van: Alles neu. Glänzt sein Rad etwa?


Wir bedanken uns herzlich bei dem Herren. Bescheiden und großherzig grüßt er noch winkend, als er davon fährt. Flow baut sein Laufrad ein und grinst mich an: "Weißt Du, wer das war?"

Nee, weiß ich nicht.

"Das war Jacques Suire.", sagt er.

Aha. Erst eine Recherche später gibt Aufschluss: Jahrgang 1943, Präsident des Merignac Velo-Club und Vize-Landesmeister im Sprint der Nationalmeisterschaften Frankreichs 1969 sowie zweimaliger Gewinner in Cajac 1966. "Er hat mir seinen Laden aufgeschlossen. Hat alles eigenhändig repariert - sogar die Schaltung eingestellt und alles gefettet! Alter, da hängen Rahmen vom Team Telekom und etliche Trikots!", Flow ist ganz begeistert. Ich bin nur hungrig.

Dann hält neben uns der Herr im feinen Zwirn, steigt aus und bietet uns einen Ultremo in rosa an: "Es ist gebraucht. Aber ich habe ihn von meinem Rad abgebaut."

Nun soll Flow dem Herren erklären, dass wir seinen Gummi nicht mehr brauchen.

Peinlich berührt, sichtlch ergriffen von der Hilfsbereitschaft dieser tollen Leute machen wir uns endlich, gegen 14 Uhr auf den Weg: Vive la Velo-Club Merignac! Vive la Bordeaux!


Wir fahren nach Norden, zunächst entlang einer dicht befahrenen Schnellstraße, weshalb wir den Radweg nehmen. Mir grummelt der Magen und langsam fühle ich die Unterzuckerung - und auch wenn es Flow, der nun genug Hummeln im Arsch hat, um die ganze Etappe in einem Ritt durchzufahren, nicht passt: Ich muss etwas essen!

Bei der nächsten Gelegenheit probiere ich etwas aus, das ich schon immer mal machen wollte ...


Ah, die drei Cheeseburger, die Coke und das eisig-kalte McFlurry tun mir wahrlich gut: Wo andere auf ihr Hüftgold achten sollten, können wir Rennradfahrer doch essen, was wir wollen! Die 1.000 kcal des Cheeseburgers kann ich gut gebrauchen - pure Energie, reine Kohlenhydrate, die ich jetzt gleich in der Gluthitze des Medoc verbrennen werde.

Noch einige Kilometer kämpfen wir uns neben den stinkenden Autos nach Norden. Dann, abrupt, wird die Straße leer: Reben wohin das Auge blickt. Grün in geordneten Bahnen, grobe Steinböden und Weinpflanzen in Reih und Glied: Wir sind im Medoc.



Als wir auf dem - auffällig perfekten - Asphalt die ersten Mauern der ersten Chateaus sichten, ist bei Flow kein Halten mehr. Der Weinkenner und -fan sprintet von einer Mauer zur nächsten, schwelgt, stöhnt, Oh-la-laht und grinst sich einen Wolf - wie ein Kind im Bällchenbad. Dreht der jetzt hier vollends am Rad?

"Sie holen die Steine aus nur einem Steinbruch in Spanien ...", erklärt er mir, wenn er sich mal auf meine Höhe fallen lässt. Dann erspäht er hinter dem nächsten Hügel das nächste Chateau und legt einen gepflegten Ortschildsprint hin.


Ich indes habe mit der Hitze zu kämpfen: Es mögen hier gut und gerne 35, 36, 37 Grad im Schatten sein. Ich trinke wie ein Tier, habe noch immer Kopfschmerzen von der beschissenen Nacht im Hotel und schwere Beine.

Mein Hintern fängt an, Mucken zu machen.

Vorne flippt Flow aus, als wir den Ortseingang zu Margaux erreichen.


"Das sind die teuersten Weinreben der Welt!", ruft er und schaut begeistert in die Runde: "Gar keine Zäune hier ... krass! Da stehen Millionen!"

Nun, ich trinke auch gern Wein. Sehr gern sogar und ich mag bescheiden behaupten, dass ich einen Merlot von einem Sauvignon unterscheiden kann . Aber so wie ihn kann mich das alles hier nicht begeistern.

Zumal es hier irgendwie ... alles sehr künstlich aussieht. Wie Plastik. Wie eine Kulisse. Zu sauber. Leben hier auch echte Menschen? Gesehen habe ich jedenfalls noch keinen.


Minutenlang, für Kilometer, fahren wir entlang der teuren Monokultur. Fast muss ich meine Augen schützen vor dem grünen Equivalent der Skiblindheit: Kann man von endlosen Reihen grüner Weinpflanzen ... "weinblind" werden?

Ich lasse mich zurückfallen und gehe ein paar Meter in einen der Gänge ins Feld, als ich pinkeln muss: Ich habe Angst, dass mir Flow nachher vorwirft, mein Urin verderbe hier einen ganzen Jahrgang.

Boah ist das heiß!


Wieder ein Chateau. Schöner als die zwanzig vor ihm - und weniger schön als das nächste, an dem wir in wenigern Kilometern vorbei kommen werden, das weiß ich.

Abgeriegelt - weil Sonntag ist? - menschenleer und dadurch so künstlich wirkend. Abstoßend. Langsam ermüden wohl auch die Augen von Flow, denn immer mehr dringen nachdenkliche Töne aus seinem Mund: "Ist ja alles schön hier. So schön. Viel zu schön."

Ja, sie geben sich hier Mühe, das stimmt: Flüsterasphalt und sandgestrahlte Kulissenfassaden für die millionenschwere Weinelite.


Wie viele Liter mögen diese endlosen Felder wohl ergeben? Und, so frage ich mich, wie viel mag es kosten, diesen armen, ausgelaugten, mit Sonne und aromatischem Seewind so gesegneten Böden Jahr um Jahr Spitzenerzeugnisse zu entlocken?

Es muss so Einiges kosten. Pestizide in rauhen Mengen, zum Beispiel.

Mein Hintern schmerzt jetzt so sehr, dass ich immer wieder aus dem Sattel gehen und im Wiegetritt stehend fahren muss. Ich heiße jede Gelegenheit willkommen - anders als sonst - wenn Flow mal wieder anhalten und einem Einheimischen irgendetwas erzählen muss. Meist stehe ich dann draußen und trinke. Entspanne mein Sitzfleisch.


Wir fahren weiter nach Norden - langsam wird es hügeliger. Unterwegs begegnen wir kaum Menschen, kaum Autos. Entweder ist ihnen ihr Sonntag hier im Medoc wirklich so heilig oder - was ich für zutreffender halte - sie verkriechen sich vor dieser Affenhitze.

Es flirrt die Luft über dem tiefschwarzen Asphalt. Ich träume davon, an den Betonstäben der Wassertürme emporzuklettern, um in ihren riesigen Speichern ins kalte Nass zu springen. Wunschdenken.


Chateau um Chateau passieren wir. Mittlerweile schaut Flow nur noch durch die prunkvollen schmiedeeisernen Tore. Dann und wann schüttelt er mit seinem Kopf. Manchmal meine ich, die Worte "Disneyland" und "Scheiß Bourgeoisie" zu hören.


Wie lang soll die Etappe heute eigentlich werden? Mein Plan sagt etwas von 110 Kilometern. Und da habe ich schon 20 Kilometer Herumgekurve auf der Suche nach einem geöffneten Radladen in Bordeaux in den Beinen.

Kaum auszuhalten mein Hintern: Gott segne mich, dass ich extraviel Arschcreme mit auf diesen Trip genommen habe! Meine Erfahrungen bei meinem Giro d´Italia haben es mir gezeigt - irgendwann ist auch der stammste Rennradhintern wund. Ich bin gewappnet.


Hinter einem Dorf kommen uns ein paar Rennradler entgegen. Wir heben nur wortlos die Hand. Sie auch. Viel zu heiß ist es, um zu sprechen, geschweige denn, zu rufen: Jede Bewegung kostet hier Kraft. Nein, das sind keine 37 Grad. Das sind mindestens 40 Grad!


In manchen Kurven ist es so heiß, dass der Asphalt schmilzt. Ich merke es daran, dass mir von Flows Hinterrad flüssiger Bitumen auf die Brille spritzt. Das Unterrohr meines weißen Cervélo-Rahmens sieht aus, als sei ich in wilder Cross-Manier mitten durch einen Haufen Kuhscheiße gefahren.

Langsam nerven mich auch die geradlinigen Weinfelder: Gott, ehrlich, das ist dermaßen langweilig hier, dass ich mich zwingen muss, nicht lauthals zu fluchen!


Als wir dann an einem der besonders vergoldeten Chateaus, an einem der besonders feinporigen Sandsteinschlösschen und weiß gekieselten Rolls Royce-Auffahrten neben der französischen auch noch die russische (Investoren-)Flagge sich träge im Wind blähen sehen, vergeht es uns endgültig.

Das hier ist das Land der Multimillionäre. Ihr Spielplatz. Ihr Wein-Disneyland.
Wir sind merlotsaufende Fremdkörper.


Eine ganze riesige Halbinsel, links der Gironde, alles und komplett mit den Rebpflanzen bebaut. Eine ganze Region lebt und stirbt mit dem Geschmack reicher Herren in den besten Restaurants der Welt. Und damit nicht genug: Gegenden wie diese gibt es in Frankreich noch zu Hauf. Und in Deutschland. Kalifornien. Südafrika. Vergorener Traubensaft - und diese Geschmackverirrung. Kaugummifassaden. Übertriebenes elitäres Protzgehabe.

Da lobe ich mir die bescheidenen Moselhänge.


"Euer Reichtum kotzt mich an!", brülle ich frustriert durch die getünchten Stahlzäune.

Dabei ist es gar nicht mal der Reichtum, der mich ärgert. Auch nicht dieses wirklich übertriebene Getue, diese Buhlen und Protzen, diese Türmchen und Märchen-Anleihen. Nein. Es ist der Frust ob dieser unerträglichen Hitze (meine Flaschen sind bald alle) und die Ärgernis über meinen Hintern, der mir langsam den Verstand raubt.

Als wir an ein Chateau kommen, das zur Abwechslung mal nicht eingezäunt ist, machen wir auf dem zentimetergenau geschnittenen Rasen eine kleine Pause. Wir liegen im Schatten herum.


Flow findet ein Schild auf dem steht, dass sie - trotz Sonntag - auf einem Chateau ganz in der Nähe geöffnet haben.

"Alter! ´Ne Degustation!", blüht er auf einmal auf: "Los, da fahren wir hin!"

Also, okay - 40 Grad im Schatten und dann Wein saufen? Mach mal, Flow, mach mal alleine. Ich fotodokumentiere das dann alles, okay?


Wir folgen einem schlechten Feldweg und den pitoresk am Ende einer jeden Weinpflanzenreihe wachsenden pinken Blümchen zu einem Weingut, etwa 5 Kilometer abseits unserer Route.

Schon von Weitem können wir einige Reisebusse erkennen und ich mag mir ausmalen, wie es denn dann hier aussehen mag, wenn mal nicht Sonntag und mal nicht Ober- und Unterhitze angeschaltet sind.

Der Hof des Gutes ist menschenleer aber voller Luxusautos.
Ich lasse mich in einen der Gartenstühle fallen und bestelle mir 3 Orangina. Flow mischt sich unter die Rentner einer Gruppe, die sich die hiesige Abfüllanlage anschauen will.


Während ich draußen in der Horizontalen mit Beckenbodengymnastik und Pomassage versuche, den sich langsam schmerzhaft ausbreitenden Druckstellen an meinem Allerwertesten Herr zu werden, stromert Flow mit meinem Handy durch die Anlage und macht einige nette Aufnahmen.


Verstehen tut er freilich nichts von dem, was sie da erzählen, aber er wird sichtlich beeindruckt und mit funkelnden Augen aus dem Gebäude kommen und mir fröhlich erzählen, wie sie hier noch von Hand den Wein verschneiden und dass er stolz sei, dem kostenlosen Probeschluck widerstanden zu haben.

Gott, denke ich mir - ein Glas Wein in meinem Zustand und ich wäre so fertig wie damals beim Abi-Ball!


Von der Kühle des Weinkellers kehren wir wenig später wieder zurück in die Hitze des Glutofens. Kaum ein Blatt bewegt sich, das Fahren macht heute wirklich alles andere als Spaß.
Ich sehne die nächste bewohnte Siedlung herbei, denn mein Wasser ist alle und ich hätte gern etwas in meinem Magen. Außerdem denke ich mir, dass sich mein Hirn und der gesamte am Sehen und Denken beteiligte Apparat auch mal über was anderes als nur Weinstöcke wie am Linieal gepflanzt erfreuen würde.


In Saint Christoly Medoc erfüllt sich mein Wunsch: Wir halten kurz bei der Touristen-Information an, füllen unsere Wasserflaschen auf und ... wo bleibt Flow?

Während ich geschagene 30 Minuten auf ihn warte - was treibt er da bloß?!? - nutze ich doch die Zeit, um wieder und wieder an meinem Sitzpolster zu zuppeln und zu versuchen, den Schmerz irgendwie durch Massage wegzubekommen. Langsam dämmert mir, dass ab heute die kommenden Etappen ganz ganz schwer werden - wenn ich diese Arschschmerzen nicht weg bekomme!


Irgendwann kommt er raus.
"Weißt Du, wo wir noch hinmüssen?", fragt mich Flow.
"Na zur Fähre ...", meine ich mit Blick auf die Uhr: 19 Uhr geht das letzte Schiff und wir haben in Royan, auf der anderen Seite des Gironde, ein Hotelzimmer gemietet.
"Nee, nicht zur Fähre, das schaffen wir locker - wir müssen noch uuuuunbedingt zum Chateau Mouton Rothschild!"

Ah, klar, das wollte ich als Zweites sagen ...


Es ist wieder ein Umweg. Wieder einige Kilometer durch die Hitze. Wieder ein verschlossenes massives Eisentor. Wieder weißer Kies in der Auffahrt. Wieder ein blitzeblankes Schloss. Wieder millionenschweres Getue.

Rothschild also.
Da isses.

"Und zufrieden?", frage ich Flow etwas frech. Ich erwarte, dass er mich ebenso doof anmacht.
Statt dessen: "Machste mal bitte ein Foto von dieser Rebe hier?", fragt er und deutet auf eine der Pflanzen.

Äh, okay. (40 Grad im Schatten ...)


"Nun fahren wir aber zur Fähre.", willigt er ein: Immerhin stehen schon 126 Kilometer auf meinem Tacho, ich nehme an, dass sich mittlerweile der Herstellername meines Sattels in meinem Arsch ablesen lässt und treten kann ich auch nicht mehr.

Selbst schönste Wasserschlößchen können mich hier heute nicht mehr aufmuntern: Diese Etappe ist wirklich zu viel des Guten! Diese Hitze. Dieser Hintern. Und dann noch dieser Kitsch sind wirklich kaum zu ertragen. Schlimmer noch als die "Gilmore Girls"-Sessions meiner Freundin daheim, was den Schleimigkeitsfaktor angeht.


Auf dem Weg nach La Verdun sur Mer, wo der Fährhafen ist, müssen wir nun noch einige Hügel überqueren. Was für die Reben so schön ist - je steiler der Hang desto gleichmäßiger kriegen alle Reben Sonne ab - ist für uns Radler eine Schinderei. Da hängt einem die Lunge eh schon zum Halse raus und dann müssen wir uns, zwar nur kurze aber dafür recht steile Rampen hinaufquälen.

Ein sehr starker Wind vom Meere her - also Gegenwind - versaut uns zudem dann noch die Abfahrt. Na, wenns schief läuft, dann richtig!


Langsam merkt auf Flow, dass uns das technische Problem heute morgen, die eine Stunde Herumgekurve in Bordeaux (er musste unbedingt das Stadion sehen - Fanfreundschaft mit seinem FC St. Pauli), die ganzen Schlenker zu den Chateaus und nicht zuletzt die Hitze und der Asphalt, in dem unsere schmalen Laufräder einzusinken drohen mehr Zeit gekostet hat, als wir dachten: Nun wird es höchste Eisenbahn, die Fähre zu erreichen!

Und wenn ich auf mein Garmin schaue, stehen uns da noch weit über 30 Kilometer bevor.
Bei 40 Grad.
Klebe-Asphalt.
Und einem strammen Gegenwind.


Augen für die schöne Landschaft habe ich schon lange keine mehr. Zunächst fahren wir ziemlich nahe am Ufer der Gironde entlang. Immer wieder muss ich neidisch hinüber zum blauen Wasser schielen - es verspricht Abkühlung und Wonne.

Dann holt mich schnell jedoch ein stechernder Schmerz, der mein Nervenzentrum entweder aus dem Hintern, dem Beckenwirbelbereich, den Schultern, dem Nacken oder aus den Handgelenken erreicht, ins Hier und Jetzt zurück.

Und zu allem Spaß wirft Flow vorne wieder seinen Dieselmotor an, ignoriert die physischen Gesetzmäßigkeiten von Gegenwind und Leistung und tritt mächtig in die Pedale: 35 km/h im Schnitt bei auflandigem Wind und mir fliegen hinten fast die Körperteile ab!


Etwas unangenehm ist es wieder, dass direkt in Sichtweite ein AKW mit vier Reaktoren an der Gironde steht. Schon lange haben wir es immer mal wieder gesehen: Was für ein Angst einflößender, was für ein überholter Anblick!

Wie müssen sich die reichen Weinbauern und Gutsbesitzer nur fühlen, wenn die Investoren kommen und diese hässlichen Plutonium-Pötte vor der Nase haben? Da nützt auch das schönste Chateau nichts.


Langsam geht die Sonne unter. Tief unten am Ufer, wo der Boden wahrscheinlich zu salzig durch das Gironde-Wasser wird oder zu feucht ist, haben sie Sonnenblumen gepflanzt - ein richtiges Tour de France-Motiv!

Viel Zeit zur Freude bleibt jedoch nicht: Flow tribt unser kleines Peloton jetzt gnadenlos über die Straßen. Wo nimmt er diese Reserven her? Ach, ich vergaß: St. Pauli 5te Herren, Fußball-Waden. Der Mann hat noch so Einiges an Reserve!

Immer wieder fummle ich an meinem Garmin herum in der Hoffnung, dass wir den Track dadurch schneller abführen, aber es hilft nichts: Zunächst drehen wir auf Nord-West, dann auf komplett West und haben nun die volle Dröhnung Gegenwind.

Das Treten wird zur Qual. Wenn ich jetzt alleine wäre, würde ich hier bestimmt mit 25, 26 km/h fahren. Dank Flow sind es 32, 35 km/h.
Danke, Flow!


Die letzten Kilometer nach Verdun sur Mer sind ein Massaker an meinen Muskeln. Unterwegs halten wir vollkommen leer gelaufen an einem Campingplatz (ich will hierbleiben!) und füllen unsere Wasserflaschen auf. Flow brabbelt immer etwas von "... letzte Kilometer ..." aber ich weiß es besser: Es sind noch weit über 15 Kilometer.

Und die letzte Fähre nach Royan? Jo, die legt gleich ab.

Gottseidank dreht die Strecke dann wieder auf Norden, später sogar auf Nord-Ost, sodass mir der Rückenwind etwas das Treten erleichtert, aber der Schmerz im Hintern und die allgemeine Schwäche treten bei mir mit jedem Kilometer mehr zu Tage: Und äußern sich in Wut.


Ich bin auf einmal irrational wütend auf Flow. Warum fährt der auch immer wie ein Schwein? Kein Wunder, dass der sich einen Platten zuzieht! Wer, wenn nicht Mister "Urban Cross Weltmeister"?! Warum müssen wir auch immer seine Extratouren machen - immer locker vom Hocker, "Ach, komm schon, nur mal gucken fahren ..." und am Ende fehlen uns diese Schlenker! Warum dann immer so scheiße durch die Landschaft bolzen? Wenn man cleverer den Tag über gefahren wäre, muss man nicht immer die letzten 2 Stunden durchpolken als seien uns imperiale Sturmtruppen auf den Fersen! Ach, wie ich diese Scheiße hasse!
Hasse!
Hasse!

Vielleicht ist es das schwarze Gefühl in meinem Bauch, das mich antreibt. Vielleicht lassen mich die dunklen Gedanken und das wütende Anstarren von Flows Hintern den heftigen Antritt durchstehen, jedenfalls erreichen wir die Fähre 20 Minuten vor Abfahrt.

Ich lasse ausrollen.
Spreche kein Wort mit Flow, als er meint, er fahre mal kurz da hinten zum Atlantik.
Fahr doch!


Ich genieße die paar Minuten alleine. Laufe herum am Terminal und versuche, den Schmerz in meinem Hintern wegzubekommen. Was für eine krasse Etappe! Diese Hitze - selbst jetzt, 19 Uhr, zeigt das Thermometer noch 38 Grad im Schatten an!

Ich bin so schweißnass, dass mir, sobald ich keinen Gegen- oder Fahrrtwind mehr verspüre, sofort Perlen salzigen Wassers an der Brust herunterlaufen.

Dann diese - zunächst schöne, beeindruckende - später aber ins Übertriebene, Kitschige abdriftende Wein"kultur". Diese millionenschweren Chateaus, augenkrämpfende Lineal-Landwirtschaft, Monokultur der Reichen und Schönen.

Und dann der 35 Kilometer-Schlachtritt hier her zum Terminal.
Dagegen war der 35-Kilometer-Schlachtritt gestern zum Autoverleih ein Witz.

Gestern ... gestern, wo wir noch auf dem Aubisque fahren konnten. In den Bergen ... ich träume.



Träumen kann auch Flow, der etwa 2 Kilometer entfernt vom Terminal mit Sack und Pack auf den Strand rennt, sich nackt auszieht und in die Fluten des Atlantik springt. Scheißegal, ob die Anderen schauen, er hat es sich verdient!

Der Motor wird abgekühlt, es ist ihm eine Wonne.

Während ich schmollend an der dümpelnden Fähre warte, badet er in kabbeligen Wellen und erfrischt sich an kühlem Atlantikwasser. Wäre ich mal mitgefahren ...


An Bord der Fähre stürme ich in eine der Sitz-Lounges: Die Polstersessel sind eine Wohltat für meinen Hintern! Nur langsam vermag es die unter Volllast laufende Klimaanlage mich herunter zu kühlen. Mein knurrender Magen verdrückt eine ganze Packung angenehm salziger Chips in wenigen Sekunden. Flow sitzt zwei Reihen vor mir - ob er meine Wut gespürt hat?

Je weiter sich das seicht in den Wellen wankende Schiff von der Medoc-Halbinsel entfernt, je mehr die Schmerzen und die Weinberge hinter uns zurück bleiben, desto mehr komme ich herunter.


Nach wenigen Minuten ist dann auch schon der Hafen von Royan, dem alten Badeort, in Sicht. Wir strömen mit den wenigen anderen Passagieren an Deck und genießen die Einfahrt.

Wie immer auf meinen Touren genieße ich es umso mehr, mich mit einem Schiff der Seeseite her einer Stadt zu nähern: Auf dem Landwege haben Städte keinen Charme: Zersiedeltes Gebiet, Industrieanlagen, soziale Brennpunkte in den Vorstädten und das weltweit immer gleiche Gewirr aus Supermärkten, Autohäusern und Autobahnzubringern werten jeden noch so schicken Innenstadtkern ab.


Sich aber von See her zu nähern, ist das komplette Gegenteil: Man landet in einem Hafen, meist das Prachtstück jeder Stadt am Wasser. Man fährt neben weißen Yachten ein, entlang mittelalterlicher Stadtmauern und steigt an den schönsten Promenaden aus.

Auch Royan ist da nicht anders.

Sogar unsere Laune hat sich gebessert: Wir stehen da, beglückwünschen uns, die dann doch 140 km lange Etappe gemeistert zu haben und können wieder lachen. Na siehste!



Dies war die bisher längste Etappe unserer Tour. Und auch die Schmerzhafteste. Ich bin froh, dass ich neben meiner Assos-Gesäßcreme auch noch schwerere Geschütze auffahren kann. Und ab heute wohl auffahren muss.

Wohl wissend, dass ich hinten im Rucksack eine Tube mit stark ibuprofenhaltiger Schmerzsalbe eingepackt habe, winke ich bei der Einfahrt in den Hafen dem Leuchtturm, der davon kündet, dass wir in wenigen Minuten ein klimatisiertes Hotelzimmer haben werden, wo ich mich auf den Bauch drehen und meinen Hintern mit mindestens einem Zentimeter Salbe einpachteln werden kann.

Ah, welch´ wunderschöne Aussicht!


Wir wohnen im "Belle Vue" - und tatsächlich, die Aussicht könnte "beller" nicht sein. Der Blick auf die Badebucht von Royan mit untergehender Sonne ist unbezahlbar - das Zimmer selbst ist riesengroß, sehr geschmackvoll eingerichtet und das Badezimmer glänzt sogar mit einer Wanne.

Draußen lädt ein ausladener Balkon zum Verweilen ein und es scheint, als sei dieses Zimmer das genaue Gegenteil zu der Witzniesche, die wir heute morgen in Bordeaux verlassen haben.

Nachdem wir geduscht und ich mich eingespachtelt habe (es brennt!) dösen wir noch eine halbe Stunde im Zimmer herum. Flow sieht in den Nachrichten (arte gibt es hier auch auf Deutsch), dass heute im Département Gironde der heißeste Tag seit 10 Jahren gemessen wurde: 40 Grad im Schatten. Selbst die AKW hatten Probleme mit der Kühlung.

40 Grad.
Siehste mal an.


Abends flannieren wir noch die Promenade entlang, genehmigen uns ein - leider sehr schlechtes - Abendessen in einem Restaurant und ein wundervoll zischendes Feierabend-Bier.

Was für eine Etappe, resümmiere ich mit Flow auf dem Balkon: Gestern noch Berglandschaften, Steigungen und Abfahrten mit Todesrisiko und heute Augenkrebs im Medoc, sängende Hitze und schmelzende Straßen.

Gestern noch Spanien in der Nähe - heute am Atlantik.
Und wieder dieses Gefühl, dass diese Tour etwas ganz Besonderes ist. Unsere Große Schleife, unsere Spur durch dieses wunderbare Land. Mit diesen wundervollen Menschen - Chuck, der fußballverrückte Algerier, Jaques Suire, der Landesmeister in Merignac.

Von ihm wird Flow heute wohl träumen.
Und ich?

Von roten Backen.