15. Juli 2011

Étape 3 L´Alpe d´Huez-La Berarde-Grenoble

Wir haben heute Großes vor. Nichts geringeres als den König vom Thron zu stoßen - heute ist für mich der erste große Höhepunkt der Tour. Und als ich aufwache, durch die dicke Jalousie dringt noch kein Licht, bete ich für gutes Wetter: Nachdem der Bonette ein kompletter Reinfall war und wir gestern den "Killer" Izoard auslassen mussten, selbst den eher immer im Schatten der Tour-Legenden stehenden Col du Lautaret nicht geschafft haben, kann ich mir heute nichts schlimmeres vorstellen, als den anstehenden Hammer auch noch links liegen lassen zu müssen: Wir schlafen hier am legendären Anstieg nach L´Alpe d´Huez.

Flow schläft noch.
Leise nähere ich mich dem Fenster.

"Gott, bitte ... bitte ... lass es nicht regnen!"
Vorsichtig luge ich durch die Jalousie ...



Draußen - strahlender Sonnenschein!
Blauer Himmel!

"Flow, Digger!", wecke ich meinen Mitfahrer, "Steh´auf, Alter! Heute schreiben wir Geschichte!"

Nur schwer ächzend kann ich ihn zum Aufstehen überreden. Erst später wird mir klar, dass ihm der unglaubliche Kraftakt über den Bonette und die gestrige Etappe - bei kaltem Dauerregen - über den Col de Vars mehr zugesetzt haben, als ich vermutet hatte. Ich selbst habe mich geschont, Flow gibt Gas, wo er nur kann. Vielleicht ist das die Quittung?


Flow braucht morgens sein "Chillen". Das kenne ich schon.
Heute fällt es intensiver aus, als sonst. In voller Montur sitzt er in einem Sonnenstuhl vor dem Radsporthotel "Oberland" und ... meditiert.

Ich selbst bin ungeduldig: Immerhin geht es heute noch ins 40 Kilometer entfernte Grenoble und ich habe keine Ahnung, wie sehr uns Alpe d´Huez schaffen wird. Flow nimmts wie immer sehr leicht: Kann den denn nichts aus der Ruhe bringen?

Außerdem kann ich es nicht erwarten, endlich diesen Anstieg zu fahren: Alpe d´Huez ist vor Jahren mein erster wirklich bewusster Kontakt mit der Tour de France gewesen.


Wir fahren weiter hinein ins Zentrum von Bourg d´Oisans, binden unsere Gäule an den Radsportständern an und setzen uns vor die schönste Boulangerie mit der schönsten Bedienung mitten in die Strahlesonne und bestellen ein Frühstück.

"Damals haben wir immer Harald Schmidt geschaut," beginne ich, Flow meine besondere Beziehung zu den magischen 21 Kehren über uns zu erklären: "Es war die Tour de France - keine Ahnung, welches Jahr, es war aber die Ulle-Hytserie. Schmidt hatte Manuel Andrack nach Alpe d´Huez geschickt." Ich erkläre ihm, wie sehr mir damals die ganze Athmosphäre imponiert hat. Diese verrückten Leute. Die Massen. Der Berg. Und dann erst "Höllentour" ...

"Für mich," entgegnet Flow, "ist das hier Bayern München." Es radelt ein Carbongeschoss mit einem luxuriösen Bierbauch vorbei. Flow schüttelt seinen Kopf. Bayern München.

Und wenn schon, denke ich mir. Geil ist es trotzdem!


Als wir endlich aufbrechen und zum großen Kreisel kommen, an dem uns gestern die Belgier rausgelassen haben, halten wir an der Ausfahrt in Richtung Gestern: Beide Pässe, die wir nicht geschafft haben, grüßen. Höhnisch?

Schwermut erfasst mich kurzzeitig, dann aber trete ich rein, vollende den Kreisverkehr und halte an einem anderen Schild an, eines, das mein schweres Herz sofort aufheiter kann. Kribbeln erfasst mich. Vorfreude, fast so, wie damals, als ich 11 Jahre alt war und meinen ersten richtig großen Modellbausatz der USS Enterprise zu Weihnachten bekam. Neue Welten entdecken. So ist das wieder.

Heute werde ich auch vorstoßen.


Wie, als lösten wir einen Check ein, eine Vorauszahlung auf Kommendes, ein Kredit des Erfolges, so posieren wir an dem Pfahl, an dem es jedem Unwissenden dann doch endlich klar werden müsse - da nach rechts, da geht es lang, wenn Ihr Legenden werden wollt.

Denn da ist Alpe d´Huez.


Die Sonne strahlt so hell, dass wir geeblendet werden. Oder strahlt hier etwas anderes?

Selbst Flow scheint langsam aufzutauen, das Chillen scheint gewirkt zu haben. Er lächelt wieder. Er kann grinsen und er wirkt, als wolle er es den Bayern heute so richtig besorgen.

Da der Wind auffrischt, ziehe ich mir mein langes Trikot über, kröne mein Haupt mit der gestern frisch gekauften Velo-Retro-Kappe, überprüfe noch einmal den festen Sitz meiner Mavic-Klickschuhe und nulle mein Garmin.

Es ist noch leer - um 9 Uhr sind erst wenige unterwegs - als wir in die erste Rampe gehen.
Ich starte die Stoppuhr.



Es geht sofort zur Sache: Die ersten 1,5 Kilometer wartet der Berg mit über 10% auf. Flow bleibt sofort zurück, obwohl ich mir heute vornehme, sehr langsam, sehr ruhig die Kehren in Angriff zu nehmen.

Ich könnte laut schreien, so geil finde ich es hier: Der Asphalt ist voller Widmungen, Schriftzügen und Anfeuerungen. Einige frisch, viele schon abgewetzt, veraltet und doch so aktuell. Unter mir rollen Andy Schleck, Ulle, Lance und all die anderen großen Namen durch.


Ich lasse Flow näher heran kommen, irgendwie will ich das hier nicht allein machen. Langsam kommt er heran, schnauft sich wie immer in einem hohen Gang die Prozente hinauf. Als wir nebeneinander sind, gibt er plötzlich Gas.

Was soll das? Ein Witz? Will der tatsächlich ein Rennen fahren?
Kann er haben!

Heute habe ich die besten Beine sein Tourbeginn. Die Sonne scheint. Alles ist perfekt. UND HEUTE KOMME ICH HIER ALS ERSTER OBEN AN!

Sofort gehe ich aus dem Sattel, da ist er noch keine halbe Radlänge vor mir, schalte zwei Gänge hoch, trete rein und bin sprunghaft wieder vor ihm. Es folgt bei der ersten Kehre eine Rechtskurve, ich bin weiter aus dem Sattel, stemme mich in die Pedale und habe schnell einhundert, einhundertfünfzig Meter Vorsprung.

Erst da drehe ich mich um, sehe, dass Flow weitab hinter mir kurbelt, und erst da setze ich mich wieder hin. "Heute komme ich als Erster oben an!", rede ich mir ein. Heute ist mein Tag hier. Heute mache ich den Pantani! Heute wird die Schmach vom Bonette ausgebügelt. Ich ziehe gleich. Keine Chance mehr, für Flows Bonette-Spitzen.


Jede Kehre hinauf nach Alpe d´Huez ist benannt nach einem Sieger hier. Manche Kurven tragen schon zwei, drei Namen. In jeder Kurve kündet ein Schild vom Namenspatron, gibt Aufschluss über die nächste Rampe (Länge, Gradient) und motiviert so umso mehr, auf dem beschwerlichen Weg nach oben.

Ich komme schon mächtig ins Schwitzen, heiß wird mir unter dem Helm und ich beginne, mir freihändig in Fahrt die Jacke und den Helm abzunehmen.


Flow ist weitab hinter mir. Ab und zu kann ich ihn in den Kurven unter mir sehen. Das Braun seiner St. Pauli-Jacki glitzert ab und zu durch die Bäume.

habe ich mir seinen Angriff nur eingebildet? Wie auch immer, die kleinen Spitzen werden ihm ab heute im Hals stecken bleiben. Aber. Um ehrlich zu sein, ich glaube, der Florian hat heute seinen ganz eigenen Kampf auszutragen: Die Höhe macht ihm zu schaffen, sagt er.

Und außerdem ... er muss es heute Bayern München besorgen.


Ich habe schon mächtig an Höhe gewonnen, als ich aus den unteren Serpentinen heraus komme. Der Blick durchs Isére-Tal über Bourg d´Oisans hinüber auf die mächtige andere Felswand werfen, die unseren Schlafort von Süden her umschließt.

Noch immer fahre ich im Schatten, aber die Steilheit der Straße und mein etwas flotterer, Flow-getriebener Antritt treiben mir den Schweß auf die Stirn.

Als ich die ersten Rennradler überhole, schalte ich ein paar Gänge herunter. Ruhig machen, genießen - heute ist hier kein Einzelzeitfahren. Hier ist Urlaub angesagt.


Ich habe genug Zeit, um einige Dinge auszuprobieren: Bin ich am Col de Vars noch ressourcenschonend und bedächtig gefahren, kann ich hier heute immerhin ohne Gepäck (das haben wir im Hotel lassen dürfen) ein bisschen was reißen.

Ich probiere Rhythmuswechsel aus. Wiegetritt zwei Gänge höher, ein kurzer schneller Antritt, im Sitzen fahren, langsamer machen, 11 km/h, etwas ausruhen, leise treten, Laktat abbauen, dann wieder Antritt.
Macht Spaß.
Kostet Energie.

Aber wenn ich dann wieder einen der Frühaufsteher abgehangen habe (natürlich nicht ohne ein nett gemeintes "Bonjour Monsieur!" über die Schulter zu werfen), freue ich mich. Es hat sich gelohnt.


Im Schnitt geht es im mittleren Teil mit 8% bergan. Immer noch steil genug, beeindruckend, wie sie hier die Straße in den Fels gebaut haben. Wenn die bunte Karawane der Tour de France hier vorbei kommt, sollen hier bis zu eine Million Verrückter am Straßenrand stehen, Tage vorher kommen sie an, campen hier, schreien sich die Stimmen aus dem Leib, feuern ihre Idole an ... kaum auszudenken, wie es einen befeuern muss.

Ich glühe ja hier schon.

Wie sehr muss es einen Marco Pantani hier beflügelt haben.


Ab dem kleinen Örtchen La Garde (Kurve 6) geht die Straße in ein längeres, recht steiles Geradeausstück über. Der schützende Schatten der Bäume verlässt den Rennradler abrupt den Wald - rechts neben und unter mir breitet sich tief geschnitten eine Schlucht aus, weiter hinten kann ich Bourg d´Oisans erkennen, ein grandioser Ausblick.

Wenn ich nahe am Hang meine Augen streifen lasse, kann ich das Vorhin sehen. Die Kehren, die Kurven. Wilde Serpentinen, gezähmter Abhang. Asphaltlegende.


Irgendwann fahre ich wie auf einer Brücke hoch oben schwebend hinüber auf die von unten gesehen rechte Abhangseite - die finalen Kurven rücken näher.

Fast muss ich mich bremsen und wundere mich ob des schnellen Aufstieges: Soll das jetzt schon alles gewesen sein? Ich schaue auf meine Stoppuhr: Schon 38 Minuten unterwegs. Marco Pantani war bei seinem EPO-geschwängerten Rekordritt jetzt schon seit einr Minute am Ziel, ich aber habe noch die Hälfte vor mir.


Ich bin ganz schön außer Puste, aber nie in Gefahr, zu überdrehen. Nach dem Bonette und dem Vars habe ich nun gelernt, wie ich am besten einen Col fahren muss. Es ist der langsame, der kontrollierte Rhythmus, den es zu finden gibt. Hier, an diesem Abhang und heute, an diesem Tag, gibt es keinen Gegner, den ich besiegen müsste: Weder eine Stoppuhr treibt mich an noch das Wissen, in einem Rennen zu fahren.

Obwohl - das kann ich mir hier mittlerweile sehr gut vorstellen. Jeden Mittwoch findet hier ja das offizielle Zeitfahren für Jedermänner statt. Schade, dass heute nicht Mittwoch ist ...


Immer wieder überhole ich andere Fahrer: Meist sind es betagte Räder mit noch betagteren Fahren, desöfteren aber durchaus konkurrenzfähige Zeitgenossen auf durchaus konkurrenzfähigen Maschinen.

Als ich vor mir Einen im Maillot Jaune fahren sehe, komme ich nicht umhin, einen kleinen Zahn zuzulegen und ihn zu überholen - wie im Rausch fährt es sich hier oben und ich kann mich kaum bremsen, es nicht einfach lauthals hinauszubrüllen!


Bei 52 Minuten verlasse ich die Baumgrenze. Von hier ab ist der Hang gänzlich unbewaldet. Über mir, etwa in einem Kilometer Luftlinie, sind die schlimmen Betonburgen von Alpe d´Huez schon zu sehen. Wie eine Schlange kurbeln sich langsam an einer Perlenschnur aufgereiht andere Rennradler die letzten Kurven hinauf.


Unter mir liegt, nur durch einen kleinen Schlitz, den die Bergrücken lassen, weitab entfernt im Tal unser Hotel. Eine andere Welt - das "da unten". So weit entfernt, so entrückt, dass es kaum vorstellbar ist, dass ich es in so wenigen Minuten geschafft habe, dieser vertrauten, ebenen Erde so schnell zu entschwinden.

Dann und wann kann ich Flow erkennen: Weit abgeschlagen ist er dennoch gut auszumachen. So langsam wie er kurbelt hier keiner.


Wie ein ausgeleierter Korkenzieher schraubt sich das dünne Sträßchen den Hang hinauf. Was von unten kaum auszumachen war, glitzert jetzt in der Sonne. Wie der gelbe Backsteinweg, auf dem Alice das Wunderland zu durchqueren hatte, liegt es da unter mir.

Noch immer habe ich mir hier heute einige Höhenmeter zu erarbeiten - aber dieser Ausblick macht schon Lust auf die Abfahrt!


Es ist eine überraschend eintretende, sonderbare Leere, die mich auf den letzten Kilometern begleitet. Kaum mehr als mein Atmen, das Knarren im Tretlager und der pfeifende Wind sind zu vernehmen. Wie Fototapete drängelt sich atemberaubend das Panorama auf - kaum kann ich alle Eindrücke so verarbeiten, wie sie hier jetzt auf mich einstürmen.

Man müsste schon anhalten, sich einen Klappstuhl aufbauen und einen Mojito trinken, sich alles in Ruhe beschauen, vielleicht jemanden zum Sprechen haben, um das hier bewusst und in allen Facetten aufnehmen zu können.


Wo ich auch hinsehe, es sind Bilder der Superlative - da unten, da war ich eben noch! Faszinierend, wie viel Höhenmeter man mit nur einer Serpentine macht! Und ebenso faszinierend, wie leicht und schnell es dann doch geht.

Sicher, es ist anstrengend. Aber sich auch - es ist kein Mord!


Wie sehr wünschte ich mir, den Bonette bei einem solchen Wetter befahren zu können! Um wie viel eindrucksvoller muss die Höhe von fast 3.000 Metern wirken, wenn nicht trübe Nebelbänke, schummriges Regenlicht und zugeschwollene Augenlider die Sicht trüben würden. Um wie viel reicher wäre ich jetzt?

Aber halt, denke ich mir, halt - viel reicher wäre ich nicht. Die Erfahrung, die ich am Bonette gemacht habe, machen bestimmt wenige andere auch. Bei schönem Wetter kommt da jeder halbwegs Fitte drüber (ich überhole gerade einen 70+ Rennradler). Aber bei 6 Grad Schneeregen schaffen es wenige.


Und dann kommt, was Flow so verachtet: Bayern München.

In einer Kurve lauern zwei, drei Fotografen. Superteure, große Kameras, Teleobjektive, es knattern die Blenden. Sie schießen Fotos, verrenken sich die Köpfe. Ich grinse - versuche, professionell auszusehen.

Ein Assistent spurtet mir nach und gibt mir die Visitenkarte mit einem Code.
"Merci, Monsieur", sage ich und kurbele weiter.

Das Foto kostet 22 €.
Bayern München eben.


Ich werde es, wenn ich wieder zu Hause bin, kaufen, beschließe ich. Man macht so eine Erstbefahrung nur ein mal im Leben. Und daran möchte ich mich in HD Qualität erinnern.

Als schönen Kontrast zu meinen Handyfotos.
Ah, herrlich.

"Sieht aus wie Fototapete", sagt meine Freundin, als ich es zwei Wochen später downloade. Meine Spontaneingebung, eine Bonette-Montage zu machen, verwerfe ich dann wieder.


Die letzten Meter werden zum Endspurt. Immer mehr Radfahrer überhole ich nun. Es sind auch zwei Muttis mit Montainbikes und ein Mädchen darunter, das nicht älter als 11 Jahre ist. Sonderbare pädagogische Maßnahmen, aber trotzdem: Hut ab!

Allerdings: Bei genauerem Hinsehen bemerke ich, dass fast alle hier am Berg 3-fach- oder wenigstens Kompaktkurbeln fahren. Okay, soll jeder sehen, wie er hier hoch kommt, aber Leute, bitte ...


Oben, kurz vor dem Ortseingangsschild, machen sie ein weiteres Foto von mir, diesmal gibt es zu der Fototapete auch noch Bandenwerbung dazu. Kostet auch schon 30 €, aber auch diesen Spaß lasse ich mir nicht nehmen. Im Urlaub knauserig zu sein, das ist nicht so mein Ding.

Der Weg durch Alpe d´Huez ist tricky: Ich weiß nur, dass viele hier wohl falsch fahren, falsch abbiegen und zu früh abbrechen. Gottseidank haben sie wohl die Beschilderung erneuert und so weist mich ein "Arriveé Tour de France" durch den - wirklich hässlichen - Skiort.

Ich muss eine Unterführung durchfahren, eine letzte, sehr steile Rampe erklimmen und dann, schon überhalb des Ortes, zwei Kreisverkehre umfahren. Dann ist es da: Das Ziel!


Bei 1:06 Stunden schaue ich im Ziel auf meine Stoppuhr. Ganz überwältigt und abgelenkt schalte ich das Garmin bei 1:10 Stunden ab.

Da ist es also: Ziel L´Alpe d´Huez.
Doppelte Zeit gebraucht, wie Marco Pantani seinerzeit.

Ich steige ab, mir fröstelt sofort, jetzt, da die wärmende Belastung vorbei ist. Noch immer grenzdebil grinsend hoffe ich, dass Flow bald um die Ecke geschnauft kommt, denn ich will meine Freude mit ihm teilen. Hier oben (es stehen sogar die Absperrgitter der Tour herum) kommen sie also an! Hier oben kamen so viele von ihnen an! Wie geil ist das denn bitte!!!


Der Ausblick ist fantastisch - die Sonne strahlt so stark, dass meine Handycam an den Kontrasten verzweifelt. Wie gemalt, wie Modelleisenbahn liegt eine grüne Welt fern weitab unter mir. Und ich hier oben - ganz allein, keiner da - stehe in Endorfin und träume gerade wach meinen Radsporttraum.

Hier wird auch 2011 eine Etappe der Tour de France enden. Hier oben, nach 21 Kurven, werden sie alle ankommen. Unfassbar!

So schön also kann Bayern München sein.


Ich sitze in der Sonne (schon 10 Minuten - wo bleibt Flow nur?!?) und lasse den Aufstieg Revue passieren: Die ersten, harten Rampen ganz unten, die engen Kurven und in den Kurven die bis zu 17% steigen Stücke, dann der kleine Ort, hinter dem es ein Stück leicht geschlängelt geradeaus ging, ehe es an der linken Flanke hinter Huez wieder steiler nach oben geht und dann die baumfreien Wiesen, auf denen hier bis zu einer Million Verrückte ihre Idole anfeuern.

Wahnsinn!

Ich bin noch ganz elektrisiert, hocke in der Sonne und wundere mich erst nach 30 Minuten, dass Flow noch nicht da ist. Also, ich war vor ihm, aber keine 30 Minuten!

Ist da etwas passiert? Kann ich mir bei ihm gar nicht vorstellen.
Hat er sich verfahren? Wohl schon eher, obwohl wir die Strecke genau besprochen hatten ...

Ich schreibe eine SMS und fahre hinunter zu dem Punkt, an dem alle vorbeimüssen - ob nun hoch oder runter.

Dort ist gerade mächtig Trubel ...


Ein komplettes, sehr professionell gekleidetes Jedermann-Team aus Holland vom Sponsor Rabobank hat dort den Zieleinlauf eines privaten Zeitfahrens aufgebaut: Hier jubeln sie alle jedem Fahrer zu, der die letzte Rampe empor geschnauft kommt, machen Fotos, nehmen ihn in die Arme und lassen ihn hochleben.

Eine tolle Stimmung - sie sind eben radsportverrückt, diese Holländer!

Nur kein Flow in Sicht.

Irgendwann wird es mir zu lang. Der nächste, logische Ort, an dem wir uns treffen würden, wäre das Hotel. Immerhin sind doch unsere Klamotten zwischengelagert. Also mache ich mich schweren Herzens an die Abfahrt.

Rasant, aber nicht zu schnell, reite ich die 22 Rampen hinunter. Was ich in über einer Stunde mühsam mir erarbeitet habe, rase ich in 24 Minuten hinunter. Und selbst das wäre noch schneckenhaft, verglich man es mit den Profis ...


Im Innenhof des Hotel Oberland finde ich Flow.

"Wo warst Du denn?!?", bin ich ungehalten.
"Na am Ziel? Wo warst Du denn?", gibt er zurück.

Wer sich von uns beiden verfahren hatte, bleibt in den Sternen. Vielleicht hat mich ein falsches Tour de France-Schild in die Irre geführt, vielleicht ein anderes ihn. Egal. Jetzt, jetzt gibt es erstmal nur eines: Chillen!

Eine Viertelstunde machen wir es uns in den Sonnenstühlen bequem und lassen uns die wärmende Sonne auf die Bäuche scheinen: Man besieht Bayern München nicht alle Tage!

"Nun will ich noch St. Pauli", sagt Flow irgendwann.
Und ich weiß, was er meint.


Wenig später fahren wir mit Rückenwind aus L´Bourg d´Oisans hinaus in Richtung Galibier. Wir werden aber nicht links herum fahren, sondern die kleine, unbedeutend scheinende Straße nehmen: Es soll zum La Berarde gehen.

Die Belgier, die uns gestern in Briancon aufgelesen hatten, gaben uns diesen Tipp. Der La Berarde sei kein besonders schwerer, dafür aber einer der schönsten Berge, die man hier fahren könne. Kaum einer kenne ihn, nur wenige Eingeweihte und Einheimische messen sich an seinen Flanken.

Das klingt doch interessant!


So hätten wir Bayern München am Morgen und St. Pauli am Mittag, denken wir uns und biegen nach etwa 10-minütiger Vollgasfahrt auf die schmale, etwas staubige Asphaltstraße ein. Das Hinweisschild ist klein, fast versteckt.

La Berarde - heißt das etwas "Der Geheimtipp" auf Französisch?


So geheim ist es dann doch nicht: Mit uns hat es noch zwei Holländer hier her verschlagen. Bei all den Holländern hier verstehe ich langsam, dass sie den Anstieg nach Alpe d´Huez den "Berg der Holländer" nennen. Aber mal ehrlich: Warum kommen sie gerade hier her?

Flows Tempo schwillt wieder ein bisschen ab. Langsam kenne ich seine Stärken. Und seine Schwächen: In der Ebene ist er unschlagbar, bärenstark, oft ungestüm. Dann bricht er los, komme was wolle, Gegenwind, Bordsteine, Pelotons - Flow kennt kein Erbarmen.


So0bald es nach oben geht - und wenn es nur leicht ist - ist es mit Flow genau das Gegenteil. Dann scheint es, als bliebe er im Asphalt stecken. Er wechselt aber auch nicht den Gang, stoisch, fast störrisch tritt er solange auf dem großen Blatt weiter, bis das Knarzen seines Tretlagers schon die Bike-Abteilung von Amnesty International und ADFC auf den Plan rufen würde.

Wir holen die beiden Holländer ein, grüßen und fahren eine Weile mit ihnen zusammen als 4er-Team in den Anstieg zum Berarde.



Der Tipp der Belgier scheint wirklich ein Supertipp gewesen sein. Das Tal, in dem wir fahren, ist nicht besiedelt, die Bergflanken voll bewaldet: Keine Skipiste trübt den Blick auf pure Natur, kein Skilift verschandelt den Abhang, wie eine hastig vernähte Narbe.

Hoch oben schimmern Flüsschen wie silberne Bänder. Es ist, als fahrenden wir durch eine Welt, die noch nicht von Menschen zersiedelt und der Profitgier einer haltlos wuchernden Bespaßungsindustrie ausgebeutet wurde.


Wir haben schon 1.400 Höhenmeter in den Beinen, das sagt mir mein Garmin Edge. Schaue ich jetzt auf den frisch genullten Display, kann ich live verfolgen, wie es nach oben geht. Ein Hammergerät! Manchmal schalte ich von Navigation in den Steigungsmodus, nur um mich an der Linie zu ergötzen, die da so fazinierend steil in die Höhesteigt.

Was ich allerdings vermisse, ist eine Angabe des aktuellen Gradienten.
Denn das wäre doch mal genial: "Ich fahre gerade 15% - achso, so ist das also?!"



Die beiden Holländer geben Gas. Der Ältere - ein drahtiger, kantiger Typ, dessen Muskelstränge sich hart wie implantierte Plastikschläuche unter der Haut abzeichen - drückt mächtig auf Tube. Die Straße windet sich sanft durch den dichten Wald. Manchmal steigt sie an, dann, hinter einer der engeren Kurven, geht es wieder bergab.

Der andere Typ, ein komisch wirkender Kauz, keine Klamotte passt, er wirkt schlacksig auf seinem Bike, kann kaum einer Tempoverschärfung folgen.


Wir treten ein wenig stärker rein, lassen beide hinter uns und fahren durch ein tief geschnittenes Tal neben einem reißenden Fluss. Ab und zu stehen Schilder, die vor der harten Strömung warnen, ich mag mir gern vorstellen, wie ein Rafting-Ausflug hier sein muss.

In einer Kurve nehme ich im Fahren meinen Helm ab, ich erwarte, dass es bald stärker nach oben geht.

Da wir langsamer machen mussten, um die Schalen am Lenker zu befestigen, haben uns die beiden Radler wieder eingeholt. Eine etwa 1.000 Meter lange Abfahrt beschleunigt uns auf über 50 km/h, die beiden schießen an uns vorbei. Wir nehmen zunächst an, treten rein und können gleich ziehen. Flow - angestachelt - setzt sich sofort an die Spitze und beschleunigt weiter. Der Kauz und ich schauen uns an und sehen mit offenen Mündern, was die beiden da vor uns treiben.

Denn auch der Drahtige lässt sich auf den kleinen Zwischensprint ein. Schnell sind beide bei Vollast und außer Sicht. Der Kauz und ich kurbeln zunächst noch neben einander, dann lässt er sich zurück fallen: Es geht wieder bergan. Vorne freilich sind Flow und der Drahtige entschwunden.


So bin ich allein auf Bodenniveau, neben mir brechen rürkis-kalt glitzernde Wellen, ich lasse mir Zeit. Die Sonne wärmt mich, ich habe gute Beine, fühle mich fantastisch. Soll Flow sich doch duellieren - ich hingegen habe heute noch den Berarde vor mir. Und später noch eine leichte Etappe nach Grenoble.

Doch wenn ich hochblicke, dann komme ich ins JHier und Jetzt. Entschleunigt in der Beschleunigung.



Im letzten Örtchen - ein Restaurant mit Rafting-Station - wartet Flow in einer Kurve. Dahinter geht es in die Serpentinen. Wir verlassen den Fluss. Die Straße steigt zunächst in einer langen Rechtskurve extrem steil an. Ich schätze, hier haben sie uns 14, 15% unter die Reifen gelegt.

Wir überholen noch ein, zwei Radler. Dann sind wir allein.

Eine Kombination aus dem Preis von Flows Verfolgungsjagd und seiner Steigungsaversion lässt ihn schnell wieder zurück fallen. Dann fahre ich allein, kurbele mich im kleinsten Gang die Wand empor. Über mir haben sie die Straße regelrecht in den Fels gefräst - ich freue mich darauf, wenn ich gleich dort oben bin.


Ich lasse mir hier, am Berarde, mehr Zeit als vorhin in Huez - St. Pauli, da muss ich nicht gewinnen. Und so postiere ich mich dann und wann in den Flachstücken der Kurven und fotografiere Flow ab, wie er sich langsam krebsend vor mir die Serpentine zum Untertan macht.

"Ich habe Höhenangst, Alter!", ruft er mir zu.
Na, dann ist das hier ja dein Berg, Digger ...


Irgendwann steht mein Mund nur noch offen: Wir haben zwei, drei Serpentinen hinter uns, sind auf fast 1.700 Metern Höhe und die Straße legt sich an den Fels. Es schlängelt sich sanft bergan, keine 7% mag es hier haben, aber wenn ich nach unten, neben mich blicke, geht es fast senkrecht hinab. Ein atemberaubender Anblick: Das ist also das, was die Belgier meinten!


Hinter mir - wo ist Flow?
Ich drehe meinen Kopf und blicke über die andere Schulter: Ahso, da ist er! Florian kurbelt auf der Gegenfahrbahn, keine 10 cm vom Felsen entfernt. Er hat Schweiß auf der Stirn (habe ich ihn je schwitzen sehen?).

"Wow, wir geil ist das denn hier!?", rufe ich ihm begeistert zu.
Er schaut mich nur kurz kopfschüttelnd an.

Nee, ein Bergfahrer ist er wahrscheinlich wirklich nicht.


Wir kommen immer höher, obwohl das jetzt nichts mehr mit Alpenanstieg zu tun hab. Ich spüre keine Anstrengung und halte das Stück, auf dem wir seit etwa 5 Kilometern fahren, für ein Intermezzo, bevor es dann richtig losgehen mag - bevor es richtig steil bergan geht auf den Berarde.

Flow schnauft hinten.
Er hat keinen Bock mehr, das merke ich.


"Ey, das wars doch, hier kommt nix mehr!", ruft er von hinten.
Staubtrockene Luft, heißes Geflirre auf kochender Straße - dazu ab und zu ein Vogel. Sonst Stille, nichts als Stille und dieses kontrastreiche Licht, das die Einsamkeit dieser überwältigenden Natur.
"Nee, hier kommt nichts mehr!", ruft er wieder.

Will er aufhören?

"Nee, ich glaube, dass das hier noch echt nach oben geht, Flow.", entgegne ich.
"Glaube ich nicht - das wars. Den Berarde gibt es nicht."

Was ist mit ihm los? Dass ihm Berge viel Energie kosten, weiß ich, aber ... Flow und ... aufgeben?


An einem Wasserfall hält er an. Da steht er und füllt seine Flaschen auf. Dann trinkt er (kann man das trinken?) und schaut mich an: "Ehrlich, Digger, hier gibt es keinen Berg mehr ... ich würde gern umkehren."

Mir verschlägt es die Sprache - Flow will umkehren. Flow will einen Anstieg abbrechen. Flow will ... St. Pauli nicht zu Ende fahren!

Zuhause sehe ich, dass er Recht hatte. Nun, zumindest halb - im Miniörtchen St Christophe en Oisans (eine Kapelle, eine Bar und fünf Häuser) hätten wir recht abbiegen müssen, denn dort hätte es richtig steil bergauf gehen können.

Statt dessen haben wir die Einfahrt verpasst.
Und dank Flows müden Steigungsbeinen müssen wir sie nun nicht bis zu Ende fahren.


Also Abfahrt. Mal wieder.

Ich freue mich, denn anders als vorhin in Huez, wo ich so abgelenkt und so überwältigt war, kann ich es jetzt genießen. Rollen lassen, mich klein im Wind machen und richtig geil Gas geben! Die Straße ist leer, vom Aufstieg her weiß ich noch, dass keine schlimmen Stellen uns Fallen stellen könnten.

So geht es ab - das lange Schlängelstück, verwegen am Abgrund entlang, es knallt in meinen Ohren, dder Speed treibt mir Adrenalin in jede Ecke des Körpers, hellwach jauchze ich mich die Meter hinunter. Der lohn des Rennradlers - jetzt ist Zahltag!


Flow hingegen hat seine lieben Probleme. Er hält sich wieder dicht am Fels. Fast schrammt sein Ellenbogen Bröckchen aus dem Gestein. Langsam bremst er sich in die Kurve und nimmt sie weit innen.

Als ich rollen lasse, genieße ich das Gefühl, das sich kurzzeitig einstellt, wenn man ungebremst auf die Leitplanke zu schießt und meint, gleich abheben zu können. Dann langsam einbremsen, in die Kurve legen, das braun gebrannte Knie rausstellen, nach vorn gucken und hinfahren, wo der Blick einen führt.

Rechts neben mir fällt es senkrecht einige hundert Meter ab: St. Pauli hat wahrlich das schönste Stadion der Welt!


Endlich unten angekommen, rasen wir fast ungebremst in eine Herde Esel, die gemütlich die Straße überqueren. Sie blöken und Ih-Ahen, das einem das Herz aufgeht. Als am Ende schon vier Radfahrer beim Eselsstau ausklicken müssen, schlängle ich mich durch die lustigen Fellviecher und gebe wieder Gas.

"Jetzt hier die Räder in ein Raft verladen und nach Grenoble paddeln", meint Flow.
Ich finde die Idee gar nicht mal so übel - angesichts der Hitze und des Faktes, dass ich schon 2.000 Höhenmeter in den Beinen habe und wir auf den folgenden 50 Kilometern anscheinend mit hartem Gegenwind zu kämpfen haben werden.


Als wir an den reißenden Fluten stehen, verwerfe ich diesen verwegenen Plan jedoch bald wieder: Was, wenn mein geliebter Carbonrahmen an einem Felsen zersplittert oder über Bord geht? "CERVELO ÜBER BOOORD!" - geht gar nicht!

So lassen wir rollen und genießen im lockeren Freihändigfahren einige sanftere Abfahrten. An einem riesigen Bergtrikot halten wir an - anscheinend wird hier regelmäßig ein Bergzeitfahren gestartet. Schade, denke ich mir: Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich die gesamte Route vielleicht anders planen können, sodass wir noch an einem Event wie diesem hätten teilnehmen können.


Dann folgt ein Vorgeschmack auf die Luftschlacht, die uns gleich erwarten wird: Auf dem etwa 15 Kilometer langen, schnurgeraden Stück zurück nach L´Bourg d´Oisans verstecke ich mich hinter Flow. Der bolzt stark wie eh gegen den Wind an, wahrlich, das ist wieder eher sein Element.

Mit einem 35er Schnitt bollern wir am Fahrbahnrand entlang, sammeln einen Fahrer in kompletter Omega-Pharma-Lotto-Ausstattung ein, der unsere kleine Gruppe zu einem Trio vervollständigt und sich sogar an der Führungsarbeit beteiligt.

Ist Flow vorn, fahren wir 35.
Ist Omega-Pharma-Lotto-Man vorn, fahren wir 29.
Wenn ich vorn bin (auch wenn es nur ein Kilometer ist), schafft es unser Zug wenigstens auf 30.


Am Kreisel trennen sich unsere Wege: Der Pharma-Mann wird anscheinend noch nach Alpe d´Huez hochkurbeln (dazu hätte ich auch noch mal Lust!), wir fahren eine Abfahrt später raus und holen unser Gepäck aus dem Hotel Oberland.

Ich genehmige mir noch eine riesige Portion Pommes beim ortsansässigen belgischen Frittenbäcker, dann geht es los.

Wir grüßen noch ein letztes Mal grinsend nach Alpe d´Huez, dann stemme ich mich in Untenlenkerposition, gehe in Führung und in den Wind: Der Ritt nach Grenoble beginnt!


Die Straße ist die ersten 10 Kilometer schnurgerade, durch das offene Tal wird der Wind kanalisiert und so muss ich immer wieder mit harten Böen kämpfen. Ich spüre, wie es leicht und beständig bergab geht - sicher nur eine psychologische Erleichterung. Als ich Tage später die GPS-Aufzeichnung hochlade sehe ich, dass es erst 30 Kilometer vor dem Ziel wirklich abknickt. Aber da führte schon Flow.

Als wir nach 2 Kurven (auf 20 Kilometer!) eine lang gezogene Linkskurve fahren, stoßen wir in ein enges Tal.


Die Straße wird schmaler, der Verkehr dichter - Flow geht nach vorn.
Ich kenne seinen Rücken mittlerweile so gut, dass ich sehen kann, wie er sich fühlt - je nachdem, wie sehr sein unterer Oberkörper sich beim Treten windet kann ich erkennen, wie viel Kraft er in die Kurbel presst - und damit, wie gelaunt er ist.

Jetzt windet sich sein Rücken enorm: Flow gibt Gas!

Die Lokomotive zieht mich durch den Gegenwind, das mittlerweile starke Gefälle (ich schätze, wir fahren hier im Schnitt 2 bis 3% nach unten) tut das Ihre, der harte Gegenwind scheint machtlos zu sein.

So bolzen wir ohne Pause atemlos, teilweise mit über 40 km/h, die Straße entlang, erst kurz vor Grenoble schießen wir aus den Alpen, eine kurze (natürlich verbotene) Passage über die Autobahn bauen wir auch noch ein, ehe wir endlich - und ich vollkommen zerstört - den noblen Ort erreichen.

Um genauer zu sein - Echirolles.
Hier hat uns Fixe, ein Freund von Flow, eine Übernachtung bei einem Freund organisiert. Ich bin gespannt.


Grenoble ist wenig nobel, als wir auf einer breiten Straße in die Stadt fahren. Zunächst wie bei allen Städten üblich, müssen wir uns durch ein eher unschönes Industriegebiet mit den üblichen Autohäusern, Matrazenläden und Pleiteruinen kämpfen. Erst langsam wird Echirolles zu dem, was es wirklich ist: Eine Eigenheimsiedlung.

Das Garmin und Flows Nase führen uns zu einem wunderbaren Holshaus, wir klingeln und schon machen sie uns auf - eine Bilderbuchfamilie.


Silvain (Buchdrucker und leidenschaftlicher Rugby-Spieler), Celine (Reisebüro-Angestellte) und die beiden wundervollen Töchter begrüßen uns so herzlich, dass es einem fast peinlich ist. Flow wird auf einem riesigen Sofa im Wohnbereich und ich unterm Dach im Playstation-Zimmer auf einer nicht weniger geräumigen Couch einquartiert.

Nachdem wir - natürlich in einem Bad nach alt-französischer Sitte - geduscht und uns in zivil umgezogen haben, sammelt Celine sogleich unsere Klamotten ein, die sie zum Waschen bringt.


Als ich unten in die Küche trete, stellt mir Silvain eine 1 Liter Flasche (!) lokales Bier hin. Wow, was für ein herzlicher Empfang! Erst jetzt merke ich, dass sie hier für uns ein riesiges BBQ vorbereitet haben: Celine und ihre älteste Tochter haben einen Kuchen gebacken, Silvain hat jede Menge Fleisch mariniert und Bier gibt es im Überfluss (die Deutschen trinken ja so viel ...)

Irgendwann sitzen wir draußen an einer großen Tafel. Wir reden übers Radfahren, über Fixe, die Alpen, die Tour de France, Louis de Funes, mit Händen und Füßen, Flow zeigt den Mädchen Zaubertricks, die Mädchen zeigen uns einen Raggamuffin-Tanz, Silvain übt sein English, ich versuche mich in Französisch - dabei essen wir Hühnchen, Würste, Chips und Brot, trinken Bier und Wein und über uns geht die Sonne unter.


Besonders hat es mir eine ganz spezielle Bratwurst angetan: Sie ist sehr pikant, viel dünner als ihr deutscher Kollege und schmeckt einfach hervorragend. Sie nennen sie Merguez. Ein Traum. Obs das auch in Deutschland gibt?

Als ob ich nicht schon voll genug gestopft wäre (und betrunken bin ich auch schon), tischt die Tochter stolz wie Oskar ihren Kuchen auf. Dies ist ein Clafutis - eine Kirschtarte, die besonders saftig ist.

"Mit unseren Gartenkirschen!", bestätigt Silvain.


Ein wundervoller, herzlicher Abend geht zu Ende. Wir verabschieden uns, als wären wir alte Freunde. Es tut gut, auch mal "echtes Leben" abseits eines Hotels mitzubekommen - und dass wir dann gerade die glücklichste Familie der Welt erwischen, ist besonders genial.

Als wir Zähne putzen und uns bettfertig machen, liege ich in meiner Couch und schlafe seit 4 Nächten das erste mal allein. Auch das, bei aller Liebe Flow, ist eine wundervolle Sache.


Ich träume weg, träume mich 50 Kilometer weit nach Osten, die steilen Hänge des La Berarde hinauf, die 21 Kurven von L´Alpe d´Huez hinab: Heute haben wir einen König besiegt und einen Geheimtipp erforscht.

Heute habe ich eine Legende erlebt und wieder einmal einen Liter reines Endorfin produziert.
Nach den ersten Regentagen und dem eher verhaltenen Start war dies der erste Tag mit Sonne, der erste Anstieg unter menschlichen Bedingungen: Und ich muss sagen, wenn das Wetter so bleibt bei den anderen Bergen, dann machen mir weder Mont Ventoux, noch der Peyresourde und auch kein Tourmalet mehr Angst.

Naja. Vielleicht ein bisschen ...