10. September 2011

Étape 10 Nantes - Saumur

Oh weh, was für ein Morgen! Ich ächze, als ich mich zehn Minuten nach 5 Uhr aus dem Bett wälze. Neben mir schnarcht Flow noch genüsslich: Er wird heute auf das Frühstück, dass sie extra für mich vorziehen, verzichten - 30 Minuten Extraschlaf für ihn.

So sitze ich mutterseelenallein beim Petite Dejauneur und lese in einer Zeitung, die ich nicht verstehe. Der Kaffee macht mich wach - was will man mehr?


Irgendwann stößt Flow dazu - Schlaf in seinen Augen, die Bewegungen noch unbeholfen, wie eine gerade zur Welt gekommene Giraffe. Ein elender Morgen. Selbst, als wir vor unserer Königsetappe mit dem Tourmalet "so früh wie möglich" aufgestanden sind, war es noch halbwegs christlich zugegangen. Heute morgen, das ist einfach nur Quälerei.


Auf dem Weg zum Bahnhof finden wir ein leeres La Rochelle vor: Keine Menschenseele auf den Straßen, keine Geräusche. Ich erschrecke förmlich, als auf ein mal aus einer Seitengasse ein Müllwagen auf uns zu kommt.

Auf dem Bahnsteig herrscht schon reges Treiben, allerdings hätte ich mir mehr Berufspendler vorgestellt: So bleibt der nagelneue Regionalzug erstaunlich leer, wir finden beide zwei Vierer-Sitze, auf denen wir es uns bequem machen.

Schnell dämmern wir immer mal wieder weg. Die heutige Etappe beginnt mit einer Bahnfahrt.


Drei Stunden später steigen wir in Nantes aus.

Noch immer ist es früh am Morgen und noch immer erstaunt es mich, dass sich die Geschäftigkeit hier in Grenzen hält: Morgens, 9 Uhr in Hamburg? Chaos!

Hier aber schlendern die Pendler scheinbar einmütig, wie in Zeitlupe, zu ihren Arbeitsstellen, keine Hektik, kein Gerangel: Sehr angenehm.

Nur zögerlich komme ich in Gang. Zwar konnte ich, weil ich gefrühstückt hatte, die Fahrt sehr ruhig und fast im Schlaf verbringen, anders als Flow, der sich was zu Essen organisieren musste, aber nun rächt es sich. Ich bin saumüde!

"Saumur" heißt denn dann auch unser heutiges Etappenziel.


Die ersten Meter durch Nantes nehme ich wie betäubt wahr. Hinter Flow pedalliere ich her, er kurvt - nur Gott weiß, woher er weiß, wo es lang geht! - durch die Straßen, vorbei an teils modernen, teils zuckeerbäckerartigen Fassaden vorbei. Die Stadt erwacht - doch ich bekomme es kaum mit.

Milchig nur scheint eine blasse Sonnenscheibe durch dichten Hochnebel. Ein schöner Sonnentag? Ich mag noch nicht so ganz daran glauben.


In Nantes hat eine sehr gute Freundin von mir ihre familiären Wurzeln und so zwinge ich mich, langsam mehr und mehr erwachend, die Augen offen zu halten. Vorbei an mittelalterlichen Fassaden, Renaissance-Bauten und Resten von Stadtmauern und Handelshäuser schleifen wir - leider eben nur vorbei - an der Altstadt von Nantes vorbei.

Hier ist immerhin die sechsgrößte Stadt Frankreichs und mithin eine der ältesten noch dazu: Schon die Römer fanden hier, am Zusammenfluss von Edre und Loire durch die Nähe zum Atlantik ein ideales Siedlungsgebiet vor: Namnetum.


Á propos Loire: Die überqueren wir, bequem auf der Busspur fahrend, sogleich und ehe wir es uns versehen, künden einige Ortsschilder schon vom Verlassen der Stadt. Schade, dass wir nicht ein bisschen länger bleiben konnten - ja, warum eigentlich? - und so hänge ich mich an Flow heran, der sich gestern, nachdem er sich vom Hotel-Concierge einen detaillierten Plan Frankreichs geborgt hatte, eine genaue Idee von der heutigen Etappen zu haben scheint.

Unsere geplante Route haben wir sowieso schon verlassen, denn eigentlich wollte ich ab La Rochelle nach Blois fahren - da wir den Ruhetag in Bordeaux ausfallen lassen haben ergab sich für uns nun aber die Möglichkeit einer zusätzlichen Etappe, die wir heute hier fahren werden. Blois wird damit nur eine Zwischenstation.


So überqueren wir einen zweiten Arm der Loire - über die Ile de Nantes - und fahren südlich des Flusses auf einer kleinen Nebenstraße genau auf dem Deich in Richtung Basse Goulaine. Flow will auf der D751 fahren - laut Atlas eine "derbe kleine, unwichtige Nebenstrecke!", wie er mir begeistert zu vermitteln versucht, warum wir nicht auf der neuen, top-ausgebauten B-Straße fahren.

Und er behält Recht.


Die Straße ist klein.
Und kein einziges Auto fährt auf ihr.

Statt dessen radeln wir entlang des Flusses, kommen alle paar Kilometer durch kleinste Dörfer, treffen auf Omis, die aus den Fenstern schauen und die Strudel, die sich auf dem Wasser bilden, hinterher blicken. Flow fährt vorn und - leider - schlägt ein mit rund 35 km/h mir etwas zu hohes Tempo an. Ich darf meinen roten Hintern nicht vergessen und so, im Namen des Pavians, lasse ich immer wieder abreißen, halte meine angenehmeren 31 km/h und nehme in Kauf, dass Flow langsam genervt wird von meiner "Langsamkeit".

Er aber lässt sich vorerst nichts anmerken.


Statt dessen entdeckt er die verziehrten Kreisverkehre und flippt vollkommen aus, als wir an einem riesigen Fußball vorbeikommen. Als St. Pauli-5te Herren-Spieler und einer der größten Fußballstadienfanatiker, die ich kenne, für ihn natürlich Pflicht, den Ball zu erklimmen ...

Ich umkreise in ein paar mal wie die Erde die Sonne und schieße Fotos. Flow in seinem Element.


Beim Rugby-Kreisverkehr im nächsten Ort verzichtet er allerdings auf ein zünftiges Tackle, aber umkreisen müssen wir die Schaumstoffstatue allemal.

Es ist heute nicht zu heiß, es weht ein leichter Rückenwind, der mich hinter Flows massiven Körper aber nicht weiter zusätzlich anzuschieben vermag. Leider schafft es auch die Sonne nicht, den Hochnebel zu vertreiben und so präsentiert sich uns die Loire eher als mystischer, vielleicht ein bisschen trauriger Fluss.

Immerhin: Sie wird Zeit haben, sich noch von anderen Seiten zu zeigen, denn wir werden die Loire nun bis zur vorletzten Etappe begleiten.


Fast scheine ich mich an die Elbe zurück erinnert: Ein breiter, träger Fluss, flaches, saftig-grünes Land. Felder, so weit das Auge reicht und Vögelschwärme die teilweise Ohren betäubend den Tag willkommen heißen.

Nur das Fehlen jeglichen Schiffsverkehrs und die allmählich sich zumm Landschaftsbild hinzu gesellenden Weinberge erinnern mich daran, hier und heute nicht bei an der Elbe bei Bleckede, sondern an der Loire zu fahren.


"Das sind die letzten Berge!", ruft Flow, als es unvermittelt in zwei, drei Serpentinen - nicht sehr steil - bergan geht. Ich nicke nur, denn mein Hintern beschäftigt mich zusehends, da geht er aus dem Sattel und fährt mir davon. Auf dem großen Blatt.

Ich schalte schön runter und kurbele langsam nach oben. Wir sind bei Champtoceaux (erinnert mich irgendwie an Asterix) und Weinberge bestimmen nun das Bild.

Oben angekommen haben wir einen fantastischen Blick über das Loire-Tal.


Der Fluss ist nicht begradiggt, was mich wundert. Ein naturbelassener Flusslauf in einem der industrialisiertesten Länder Europas? Immer wieder sehe ich das intensive Gelb der Sandbänke. Mäander toter, längst nicht mehr aktueller Flussläufe und eine kaum schiffbare Flusstiefe bekräftigen meinen Eindruck der Idylle.

"Hier mit Kanu eine Tour machen ...", schlage ich mir im Selbstgespräch vor. Ja, das muss schön sein. Zurück zum hinternmordenden Schmerz des Rennradleerdaseins.


Eine Weile fahren wir weitab des Flusses auf einem Plateau. Flow ist längst schon außer Sichtweite. Er hat ein neues Spiel. Es heißt "Ich schalte gar nicht mehr aufs kleine Blatt sondern fahre nur in den dicken Gängen. Am liebsten im größten Gang."

So hat er, während ich hinten mit meinem Blutpopo nicht aus dem Tee komme, etwas, auf das er sich konzentrieren kann. Er hat sichtlich Spaß daran, seine Knie an den kurzen, aber durchaus knackigen Anstiegen mit dicken Gängen zu quälen.

Dann und wann wartet er dann auf mich: Zum Beispiel, wenn lustige Schilder herumstehen.


"Wir hatten schon Schnecken," meint er: "Frösche fehlen uns noch!". Recht hat er, nur leider scheint die Saison noch nicht eröffnet zu sein. Und so stelle ich mir vor, wie dieses kleine Dorf aus allen Nähten platzt, wenn sie hier zu Hunderten zur Fete de la Frosch anreisen ...


Wir machen eine kleine Pause auf einem Schulhof eines veträumten Dörfchens - hoch über dem Fluss. Wir setzen uns auf eine alte Holzbank, packen die mitgebrachten Stullen und Baguettes aus und sitzen da wie ein altes Ehepaar, starren auf den Fluss unter uns und genießen die Stille.

Schon über eintausend Kilometer haben wir in den Beinen - und angesichts dieser Flachheit hier, dieser Ländlichkeit ist es fast nicht zu glauben, dass wir noch vor 2 Tagen durch das Medoc gefahren sind und es noch keine Woche her ist, da wir in den Pyrenäen den mächtigen Tourmalet erklommen haben.


Mir persönlich ist es hier zu flach. Zu unspektakulär - zu profan. Wäre es nach mir gegangen, wären wir noch länger in den Alpen und auch noch länger in den Pyrenäen geblieben. Aber dann wäre es keine "Petite Boucle" - keine Schleife durch Frankreich - geworden.

Flow hatte mir von den sagenhaften Loire-Schlössern vorgeschwärmt und mich mit seiner Liebe zum Wein angesteckt. Dies ist nun sein Teil unserer Tour und ich gönne es ihm: Er fühlt sich hier sichtlich wohl, es scheint, als erfülle sich ihm hier wirklich ein kleiner Traum.


Bis Liré, wo die Straße nach Ancenis abzweigt, verläuft die weitere Tour eher langweilig: Wir fahren weit abseits des Flusses auf schnurgeraden Straßen, müssen lang gezogene Anstiege und enttäuschend flache Abfahrten meistern. Weinfeld an Weinfeld reiht sich an einander und das Grau des Asphalts hebt sich in keinster Weise vom Grau des traurigen Himmels ab.

Mein Hintern schmerzt nun immer mehr und - keine 100 Kilometer gefahren! - in mir steigt wieder die Angst hoch, dass das heute eine erneute Horroretappe zu werden droht.


Bis Angers, das sich auf der nördlichen Seite der Loire befindet, schwöre ich mir, durchzuhalten.

Dann aber nehme ich mir vor, Flow mit meinen Schmerzen zu konfrontieren und zu erwirken, dass wir die Etappe früher, nämlich hier in Angers, beenden können.

Was nützt mir diese Tour, wenn ich jeden Abend Blut im Sitzpolster habe?
Na und, dann sind wir halt nur 100 Kilometer gefahren?!
Wer oder was drängt uns denn ...?


"Alter!", rufe ich ihm immer wieder zu: "Ich kann echt nicht mehr!"

Tatsächlich sind die Schmerzen so groß, dass ich keine Augen mehr für die mich umgebenden Schönheiten der Natur habe. Tatsächlich ist jeder einzelne Gedanke, den ich fasse, ein Gedanke an die Schmerzen, die ich bei jedem Steinchen, das ich überfahre, bei jeder Welle, die im Asphalt ist, in meinem Hintern spüre.

Ich rutsche ungeduldig von vorn nach hinten, von links nach rechts, in der Hoffnung, endlich eine Sitzposition zu finden, die mir keine Schmerzen bereitet: Vergebens!

Es tut so sehr weh, dass ich kurz vor Angers anhalte und in einem Busch verschwinde. Dort greife ich zur letzten Hoffnung: Ibutop.

Ich schmiere mir, ach, ich spachtele fast, die stark ibuprofenhaltige Schmerzsalbe auf die offenen Stellen meines Sitzfleisches: Schon durchzieht mich stechender Schmerz! Es treibt mir Tränen in die Augen und lässt mich die Finger zu Fäusten ballen. Die ersten 20 Minuten sind der reine Horror!


Als wir endlich die Brücke nach Norden in überqueren - Angers voraus - setzt langsam doch noch die erhoffte Wirkung ein. Das Ibuprofen scheint meine Schmerzrezeptoren am Hintern zu betäuben. Mit jeder Umdrehung der Kurbel verschwindet der Schmerz hinter einem Schleier aus Taubheit. Ich kann endlich aufatmen. Kann endlich wieder kraftvoll treten.

"Go, Flow!", rufe ich nach vorn. Scheiß auf Angers, wir machen Saumur wie geplant!

Und Flow legt los.



Tief beugt er sich wieder über den Lenker.
Wirft seinen mächtigen Motor an.
Und gibt ein Atem beraubendes Tempo vor.

Wir fahren bei leichtem Rückenwind mit um die 40 km/h über die Straße, die sich seicht an den Lauf der Loire schmiegt. Schon sind wir aus Angers heraus geschossen wie zwei fehl geleitete Cruise Missiles, schon tritt er rein, als gehe es hier um den Gewinn eines Rennens.

Dank meines betäubten Hinterns kann ich nun ohne Probleme sein Tempo mitgehen.


Immer wieder feuern wir durch lange Haine und Alleen, die mich an meine brandenburgische Heimat erinnern. Kilometerlang geht das so, dann wieder entfernt sich die Straße auch manchmal vom Fluss, sodass wir durch Felder, auf denen goldgelb und reif das Korn steht.

Kaum bleibt Zeit, um mal nach links oder rechts zu schauen - wie ein Fluchtduo bei der Tour de France treten wir im Gleichklang unserer surrenden Gänge die höchst mögliche Umdrehungszahl. Schon brennen mir dir Lungen.


Mein Garmin verrät mir, dass wir schon 120 Kilometer auf dem Buckel haben: Wie lange wird die Etappe heute wohl noch werden? Das Ziel für heute - Saumur - haben wir eher "mit dem Finger auf der Landkarte", quasi über den Daumen gepeilt avisiert.

"Hier, das müsste die Mitte sein", hatten wir gesagt.
"Saumur wäre cool", meinten wir.

Es war aber nie von "wir müssen die Stadt erreichen" die Rede. Nie von Pflicht und Zwang. Und doch: Flow hält fest am Etappenziel heute fest, ich aber würde mich auch mit einem der unzähligen kleinen, durchaus pitoresken Dörfchen am Rande der Loire zufrieden geben, durch die wir hier schießen: Warum kaputt machen?


Aber die Lokomotive kann ich heute nicht abstellen. Und warum auch? Wir haben in einen wunderbaren runden Tritt gefunden, Flow haut rein, als habe Asterix ihn an seiner Flasche nuckeln lassen und ich komme in den Genuss seines saugenden Windschattens. Warum diese 40 Kilometer-pro-Stunde Schussfahrt beenden?

Wie genervt er regiert, wenn wir bei einer Etappe unter den Möglichkeiten bleiben, habe ich nach den - für ihn - so enttäuschenden 95 km nach La Rochelle gestern gemerkt. Nee, strampel dich mal frei, guter Mann, denke ich mir, gehe in Hab-Acht-Stellung und trete rein.

Und irgendwie macht es ja auch Spaß.


Die Kilometer ziehen sich. Immer wieder begegnen wir Menschen, die es dem eher träge dahin fließenden Gewässer gleich machen und es langsam angehen. Vorne aber stampfen die mächtigen Waden Flows gewohnt auf und nieder, vorne geht unbeirrt sein Blick auf den Asphalt, selten einmal zu Seite. Flow in seinem Element - keine Chance, wer ihn aufhalten wollte.


Immer wieder merke ich nun langsam, wie, kleinen Nadelstichen gleich, der Schmerz beginnt, durch den anscheinend nachlassenden Ibutop-Schutzschirm zu dringen. Mal hier, mal da, zuerst nur unterschwellig, nun aber mitunter schmerzhaft und äußerst beunruhigend zuckt und juckt es, ziept und schabt es an den beiden offenen Stellen meines Hinterns.

"Schneller, endlich ankommen!", feuere ich mich an.
Wann kommt denn endlich Saumur?!?


Heiß ist es mittlerweile geworden - mehr als 140 Kilometer stehen auf meinem Garmin, die beiden Wasserflaschen sind nun fast leer, Flow hat auch nichts mehr und noch immer zieht sich vor uns das fast leer erscheinende Flussbett der Loire wie ein Gleichnis bis zum Horizont hin.

Wir sind etwas langsamer geworden, dennoch schlaucht es nicht minder - 38 km/h im Schnitt sind auch eine Hausnummer!

Die Schmerzen sind nun wieder ganz präsent in meinem Kopf und begleiten jede Bewegung der Pedale mit foltergleichen Kommentaren. Jedes km/h wird brutal mit einem blutigen Stich in mein Hinterteil quittiert. Lange halte ich das nicht mehr aus!


Dann, endlich, eine Brücke. Ein Schild mit dem Abbiegehinweis. Saumur - steht da. Und ich kann mein Glück kaum fassen!

Als wir über die Brücke rollen kann ich nur mehr im Stehen fahren, mit letzter Kraft, im Wiegetritt, schleppe ich mein Cervélo auf die Südseite des Flusses, auch Flow nimmt nun raus, langsam, wie begossene Pudel, wie geschlagene Ritter rollen wir in die Stadt ein.


Fein heraus geputzt scheint sich das Städtchen zu haben. Damals weiß ich noch nicht, dass Saumur der Nabel der Pferdewelt ist, Saumur, Stationierungsort und Ausbildungsstätte der weltberühmten Cadre Noir und - eher was für richtige Kerle - Standort eines der größten Panzermuseen der Welt ist.

Aber vorerst habe ich hierfür kein Auge. Vorerst gilt für mich nur eines: Hotel finden. Rasu aus diesen Hosen. Und eine dicke Schicht Creme für meinen Hintern!


Zielsicher steuern wir zum Tourismusbüro der Stadt, direkt am Flusslauf gelegen. Während sich Flow innen um ein bezahlbares Zimmer bemüht, habe ich 30 Minuten Zeit, mich stehend -welch´eine Wohltat! - neben meinem Rennrad locker auf und ab laufend, etwas umzusehen.

Die Stadt scheint gepflegt und äußerst traditionsbewusst zu sein. Fast etws klein, provinziell kommt sie daher - ich erkenne kaum moderne Bauten, alles in allem eine fast unangetastet mittelalterliche Städtekulisse, die sich vor meinen Augen ausbreitet.


Wir finden ein Zimmer in einem schicken kleinen Hotel in der Altstadt. Der Herr ist zu Anfangs etwas ruppig, will unsere Rennräder nicht in seinem Foyer, schon gar nicht im Zimmer haben. Ich reagiere sehr gereizt und drehe mich auf der Stelle, wortlos, um - suchen wir uns halt ein anderes Hotel. Für Diskussionen habe ich keinen Kopf. Macht der Mann mit uns halt keinen Umsatz ...

Flow hingegen fängt an, mit dem Monsieur zu reden: "Aber Sie lassen uns doch auch mit unseren Straßenschuhen herein?"
"Oui, oui, Schuhe sind kein Problem!", antwortet der Hotelier.
"Ja, aber unsere Schuhe haben doch viel weniger Dreck an den Sohlen, als unsere Reifen?", argumentiert Flow.

Ich rolle mit den Augen. KOmm, lass uns gehen, bedeute ich ihm immer wieder. Aber Flow macht weiter. Schließlich, nach 5, 6 Minuten, hat er den Mann soweit, dass sie sich beide lachend auf die Schultern klopfen - und der Mann Flow das Zimmer zeigt. Nach 5 Minuten kommt er zu mir: "Das Zimmer ist sehr klein. Direkt an der Straße. Und teuer."
"Ja, dann los!", mache ich.

"Oh, wartet Jungs," interveniert der Chef da: "Ich habe da vielleicht doch was ..."

Das Zimmer, das wir dann bekommen, ist etwa 3 mal so groß und im ruhigen Hinterhof.
Na, sieh an ...


Als wir für das Abendessen einkaufen, fällt mir die Vielfalt der Sportzeitschriften auf: Allein 9 umfangreiche Rennradsport-Magazine zähle ich. Flow bringt es auf 4 Fußballzeitungen. Wahnsinn, diese Franzosen: So viel Sportbegeisterung! Dagegen ist Deutschland mit seinem Kicker und der Tour ein Entwicklungsland ...

Eine kleine Sightseeing-Runde als Appetitanreicherung folgt.


Wir erklettern den Burgberg mit dem Märchenschloss, das hoch über der Stadt und dem Fluss thront. Ein wunderbarer Ausblick.

Wieder fällt mir auf, dass relativ wenige Menschen, noch weniger Touristen hier anzutreffen sind. Dabei hatte ich mir die Loire-Region überfüllt vorgestellt. Immerhin ist Saumur ja auch für seine hervorragenden Weine bekannt.


Direkt gegenüber des "geschnitzten Hauses", wie ich das uralte bunte, verzogene schmale Haus neben der Kirche St. Saint-Pierre nenne, setzen wir uns in eine der vielen Boulangerien und Flow genehmigt sich - "eeeeendlich!", wie er genüsslich stöhnend in die Landschaft raunt - seinen ersten Pastis.


Als halte er den Heiligen Gral in der Hand, schlüft er genüsslich die trübe hochprozentige Flüssigkeit aus dem Glas. Er zelebriert diesen Vorgang unfassbare 30 Minuten lang, wird dabei redselig und offenherzig - die Zunge der stampfenden Lokomotive lockert sich.

So hocken wir im Sonnenuntergang und sagen der stickigen Hitze des Tages adé.
Was war das für eine Quälerei heute für mich, resümmiere ich, und habe arge Bedenken, wie ich die verbleibenden Etappen nur durchstehen soll.


Leicht angetrunken - aber es steht ja so auf dem Schild! - trudeln wir wenig später im Hotel ein. Der Monsieur lässt uns mit unseren Supermarché-Beuteln sogar in den Frühstücksraum, wo Flow weiter an seinem Pegel arbeitet und ich mich einem exzellenten Meeresfrüchte-Salat auf frischem Baguette hingebe.


Ich sage ihm, dass mein Hintern große Etappenumfänge und hohe GEschwindigkeiten kaum noch zulassen würde und entwerde ein Szenario für morgen und die kommenden Etappen: Weniger Speed, mehr Pausen.

Flow nickt.

Na, denke ich mir, als wir die Vorhänge zuziehen, ich mich auf den Bauch lege und die Spachtelmasse erneuere, ob er das morgen auch noch weiß? Ein ICE fährt halt nicht auf Schmalspur-Trassen ...

Etwas besorgt schlafe ich ein. 150 Kilometer mit einem blutigen Hintern heute. Das macht man auch nicht alle Tage.

Es prägt sich ein neuer Satz, ein neuer Insider: "Mein Arsch ist am Abkacken." Lachen kann ich darüber lange schon nicht mehr.