29. Juli 2011

Étape 4 Orange - Mont Ventoux - Orange

Gestern waren wir aus Grenoble nach Orange gekommen - die rund 200 Kilometer haben wir im Zug zurück gelegt. Nach den ersten 3 anstrengenden Etappen in den Alpen kommt mir dieser Ruhe- oder sagen wir vielmehr - Transfertag ganz gelegen: Ich kann ausspannen, aus dem Fenster sehen und die Rhone genießen, durch deren flaches Tal der Zug uns bringt.

Blicke ich nach oben hoffe ich nur, dass wir jetzt eine sonnigere Wetterperiode erwischen.
"Wenns jetzt weiterhin regnet," sage ich zu Flow, "drehe ich durch!"



Wir haben in einem Automatikhotel am Stadtrand von Orange ein ganz nettes Doppelzimmer bezogen, leicht skurril: So frage ich mich jedes Mal, warum sie hier den Hinweis "Bitte nicht rauchen" in einem Aschenbecher unterbringen. Liebenswertes Frankreich.

Ein anderes, nämlich das legendäre Frankreich, werden wir heute erfahren - der heilige, der windige Berg steht auf dem Programm. Mont Ventoux. Was für ein Name!

Der Berg galt den alten Kelten damals als heilig.
Uns Radsportlern sowieso.


Anders als geplant werden wir heute nicht die Etappe in Avignon zu Ende gehen lassen, sondern noch eine Nacht länger in Orange bleiben: So können wir gepäcklos den 1.900 Meter hohen Riesen in Angriff nehmen. Sehr früh stehen wir auf, es ist kurz nach 7 Uhr, als wir aufbrechen.

Der Wettergott scheint meine leisen Gebete erhört zu haben: Die Sonne steht kanpp über dem Horizont, aber es ist schon angenehm warm, es weht wenig Wind und keinerlei Wolken trüben das Azurblau, mit dem uns der Himmel bereitwillig spendabel überschwemmt.


Die Anfahrt ist langwierig und kräftezehrend. Wir kämpfen uns durch dichten Berufsverkehr - immer wieder poltern schwere Trucks knapp an uns vorbei - mal auf schmalen Landstraßen und mal auf großen autobahnähnlichen Start-und-Landebahnen die fast 50 Kilometer zum Berg. Wie immer spannt sich die Lokomotive Flow nach vorn, er zieht kräftig an: Für mich einen Tick zu schnell, aber ich mache es mir halt im Windschatten bequem. Wenn er treten will, soll er treten.

Wir haben die klassische Variante von Süden her über Bedoin gewählt - so, wie es sich für die Tour de France gehört.


Meine Spannung steigert sich ins Unermessliche: Bereits gestern, als wir aus dem Zugfenster in der Ferne den Riesen sehen konnten, hat es mir fast den Atem genommen. Mont Ventoux!

Erst 19 Mal kam die Tour de France hier vorbei und doch ist der windige Berg neben dem Tourmalet oder Alpe d´Huez einer der ganz großen Namen im Rennkalender. Und heute - heute werde ich mir ihn erobern.

Darüber, dass ich ihn erobere, gibt es keinen Zweifel! Das Wetter ist mehr als perfekt, ich konnte meine Beine nach den Alpenetappen und dem Husarenritt von Bourg d´Oisans nach Grenoble gut erholen und so könnte ich bei jeder einzelnen Kurbelumdrehung, die mich dem Berg näher bringt, vor Freude schreien.

Der Ventoux, er liegt auf unserer Route, weil er mein Berg ist!
Mein, mein, mein!


Wir fahren im 2er-Team mit einem mittleren 35er-Schnitt, verbissen tritt uns Flow voran, ich weiß nicht, was ihn so antreibt: Ist es, weil er die Steigung so schnell wie möglich hinter sich bringen möchte oder gilt es, eine neue Bestzeit herauszufahren?

Der Berg kommt immer näher: Blendend steht die Sonne in seinem Rücken, ich muss blinzeln, wenn ich das Observatorium auf dem Gipfel erkennen möchte.
Ich jubele und jauchze, manchmal schreie ich meine Begeisterung vor zu Flow.
Er nickt nur.

Nee, Berge sind wirklich noch so seins, habe ich das Gefühl.


Irgendwann verlassen wir die große Straße und nähern uns Bedoin, dem Startort des wirklichen Aufstieges zum Gipfel. Wie schon rund um Orange - wie eigentlich im gesamten Rhone-Tal - prägen sanfte Weinhügel, akurat gepflegt, das Bild. Traktoren, einsame Weinbauern und manch Bussard tummeln sich zwischen den Reben.

Viel besser das, was ich hinten sehe: Mächtig wächst der Ventoux aus der sonst flachen Umgebung.


Was wird uns erwarten? Viel gelesen habe ich. Vom "Kiefernwald" ist die Rede. Von harten Teilstücken auf der ansonst mit 7,4% im Schnitt eher nicht beängstigenden Steigung. Und natürlich vom kargen Kalkfels, der nackten, weißen Kuppe mit dem Observatorium, wo unerträgliche Hitze und bisweilen scharfe Winde den Radsportlern die Sinne rauben.

Ich kann es nicht erwarten!


Als wir am Ortseingang das Rondell passieren, ein bronzener Radfahrer grüßt, drossle ich mein Tempo, Flow schießt vorne außer Sichtweite - mir egal - ich brauche jetzt ein paar ruhige, ein paar besinnlichere Meter.

Es ist ein wundervoller Anblick, das Dorf, der Berg, diese Wand, unglaublich, dass ich jetzt hier bin, dass ich mir diesen Traum erfülle: Der Mont Ventoux!


In Bedoin frühstücken wir noch einen kleinen Happen.

Flow hat aus dem Hotel Oberland in Bourg d´Oisans eine herrenlose Wasserflasche mitgenommen, die am Frischwasserbrunnen auffüllt. Wir werden sie später brauchen.

Als wir bei Croissant und Café au Lait sitzen, ziehen unzählige Rennradler an uns vorbei. Alle in Richtung windiger Berg. Ich dränge Flow zum Aufbruch.
"Chillig, Digger", antwortet er und kauft sich erstmal eine neue Orangina. Der hat wie immer die Ruhe weg.

Irgendwann brechen wir dann auch endlich auf.
Hinter Bedoin passiert erst einmal gar nichts. Wir reihen uns in einer Schlange langsam dahinkurbelnder Rennräder ein, beginnen, sie Mann um Mann zu überholen: Nach oben geht es allerdings noch nicht.


Ich fahre ruhig neben Flow, auch sein Antritt hat sich verlangsamt. Ich muss verschmitzt grinsen, als ich ihn mit einem Seitenblick taxiere: Immer wieder scheint er zum Berg links neben uns zu schielen und ich weiß nicht, ob es Angst ist, Unmut oder einfach nur der Respekt vor diesem Monstrum. Wie gelähmt scheint er er zu kurbeln, schwerfällig. Wo ist seine Kraft hin?

Nein, Flow, Du bist kein Bergfahrer.
Du bist eine Zeitfahrrakete. Eine Lokomotive.

Du brauchst es Flach. Du brauchst Gegenwind. Du brauchst Strecke.
Prozente sind nicht so Deins.

Und dann freue ich mich: Von hinten zieht ein allzu bekanntes Trikot an mir vorbei.


Ein Cervélo S3.
Der Fahrer in kompletter Garmin-Cervélo Ausstattung.

Ich blicke mich zu Flow um: "... muss hinterher!", hastig kurbele ich schneller.

Als ich neben dem Mann bin (ist das ein Profi aus dem echten Cervélo-Team?) nicke ich ihm zu. Als er mich sieht, muss er grinsen. Ich mache ein Foto, rufe ihn ein "Bon Courage!" zu, er bedankt sich, ich winke, dann nehme ich raus: Fast doppelt so schnell wie ich fährt er mir in der merklich anziehenden Steigung davon.

Ein BMW-Cabrio überholt mich. Blonde Haare flattern im Fahrtwind. Eine Dame grüßt, winkt mir zu: Die Frau des Rennfahrers. Ich lächle. Wie gut hat es der Mann? Kann Rennrad fahren. Seine Süße im BMW hinter ihm.

Hinter mir kurbelt Flow.
Ich lasse mich zu ihm zurück fallen.


Ich bin so motiviert nach dem kleinen Téte-a-téte mit meinem Profi-Vorbild, dass ich wünschte, ich wäre schon längst im Schweiß treibenden Anstieg - und mir dabei wünsche, dass dieser nie aufhören mag. Statt dessen fahren wir einige Kilometer mit gehörigem Abstand leicht ansteigend parallel zum Grat des Ventoux durch letzte Weinhügel.

Immer wieder überholen wir Gruppen von Rennradlern (kurbeln wir zu schnell?), die an diesem herrlichen Morgen auch den windigen Berg erklimmen wollen.

Plötzlich kippt die Straße links ab, wir finden uns in einem dichten Wald mit niedrigen, knorrigen Kiefern wieder und dann, tja, dann geht es bergan.


Die Straße wird sehr schmal, schon fahren wir über die ersten ANDY SCHLECK und LANCE LANCE LANCE-Tourfittis, die die Fans auf den Asphalt gemalt haben. 2009 ging es das letzte Mal über den Ventoux, damals - natürlich - auch von Bedoin aus.

Im Wald herrscht kaum Luftbewegung. Vielmehr steht die Hitze hier, befeuert von einer unerbittlich knallenden Sonne. Ich schalte einige Gänge nach unten und beginne, langsam zu kurbeln.


Kurve um Kurve geht es aufwärts. Fahrer um Fahrer überholen wir. Wenn ich mich umblicke, hält Flow einen konstanten Abstand, wie immer knarzt und ächzt sein Tretlager - wie immer hat Flow einen höheren Gang aufgelegt, fast scheinen seine Oberschenkel die Lycrahosen zu sprengen, wenn er kraftvoll ins Pedal tritt.

Anfangs irritiert es mich, dass wir so leicht, so schnell so viele andere Rennradler überholen.
Ich will bloß nicht überdrehen. Nicht auszudenken, hier heute absteigen zu müssen.
Auszuschließen, hier heute nicht anzukommen.

Wie lang ist die Rampe? 17 Kilometer? Nur ein bisschen mehr als Alpe d´Huez.
Kein Problem, sage ich mir.


Mein Cervélo begeistert mich immer wieder. Es ist das beste Gefährt, das ich mir hier wünschen könnte: Sehr leicht, also muss ich kaum 7 Kilogramm am Hang beschleunigen und in Bewegung halten; sehr steif, also brauche ich mir keine Sorgen bei der Abfahrt zu machen; sehr hochwertig verarbeitet, was mich in puncto Verschleiß beruhigt.

Im Gegenteil: Ich wundere mich, dass nach den drei Startregentagen weder Kette noch Schaltung quietschen. Wie frisch eingefettet und justiert verichtet die Dura Ace unter mir absolut geräuschlos ihren Dienst. Schaltvorgänge - gerade die ätzenden unter Vollast am Berg - werden wie eh und je geschmeidig und oräzise ausgeführt.

Eine Wundermaschine, dieses Cervélo R3.


Wir scheinen schon eine halbe Ewigkeit in der Vertikalen zu stecken. Schneller als alle anderen, und doch zäh wie Kaugummi kleben wir in den winkeligen Serpentinen des Ventoux.

Ich schwitze im gleißenden Sonnenlicht, den Helm habe ich längst schon ausgezogen und über meinen Lenker gehangen. Nass machen meine Handschuhe matschige Geräusche, wenn ich das Gewicht von einer Hand auf die andere verlagere. Ab und zu schalte ich einen Gang hoch, gehe in den Wiegetritt und wanke kraftvoll einige Dutzend Meter mit 15 km/h nach oben. Dann setze ich mich hin, atme durch, schalte herunter und bin wieder bei 10 km/h.

So geht das Meter um Meter.


Der Ventoux ist ein sanfter Riese. Er gibt nicht mit tiefen, senkrecht unter dem Radler abfallenden Tälern an. Kein atemberaubender Blick lenkt ab. Alles am Ventoux ist auf Understatement getrimmt: Links und rechts könnte der Kiefernwald auch der Insel Rügen entlehnt worden sein, die kleine Staße verträumt schlängelt sich harmlos durch grüne Idylle, keine Tour-Angeberei, nichts lenkt ab, nichts fasziniert.

Nur, dass es stetig nach oben geht - mitunter manchmal recht giftig - und die Kombination aus heißer, stehender Luft, einer die schwitzenden Köpfe stetig umschwirrenden, Nerven raubenden Armada brummender Fliegen und eben jene durchschnittlich 7,4% Steigung, die einem den Saft aus den Muskeln ziehen.


Dann und wann nur merke ich - wie beiläufig - am Druck auf den Ohren, dass wir uns mehr und mehr nach oben arbeiten. Hätte ich das Garmin Edge nicht, könnte ich nicht sagen, ob wir hier auf 500 oder schon auf 800 Metern Höhe sind.

"Bonjour Monsieur!", grüße ich.
Manchmal auch "Bon Courage!"

Meist schauen sie nur nach rechts, leere, schweißnasse Augen sitzen ängstlich weit hinten in dunklen Höhlen. Einige bedanken sich, viele nicken nur. Kommt, Jungs, so schwer ist das hier doch nun wirklich nicht?!


Flow scheint Gefallen am Aufstieg gefunden zu haben. Dann doch.
Während er unten fast bewegungslos erstarrt war und kaum etwas von seiner Kraft hat durchblicken lassen, scheint er nun wieder Gefallen gefunden zu haben am Ringen mit dem Gradienten. Vielleicht, weil es nur halbswowild ist? Vielleicht, weil hier tatsächlich niemand ist, der uns überholt?

Keine Ahnung. Jedenfalls gefällt er mir so besser: Wenn ich mich umdrehe lächelt er mir zu, winkt und ruft dann und wann Dinge wie: "Geil hier!".

So muss das sein, wenn man eine Legende erfährt!


Irgendwann - ich komme oft minutenlang durch den K(r)ampf mit den lästigen Fliegen nicht dazu, mir die Landschaft zu besehen - kann ich durch eine Baumlücke endlich wieder einen flüchtigen Blick auf die schneeweiße Kuppe des Ventoux erhaschen: Näher ist er auf jeden Fall, aber noch so weit weg!

Ich kann mir schon vorstellen, wie die alten Schamanen in sternenklaren, mondhellen Nächten um ihre Lagerfeuer gesessen haben, hinter ihnen glänzt die Spitze des Berges mysthisch im Mondlicht.

Doch heute ist nichts mysthisch - naja, vielleicht der Fakt, dass wir hier alle überholen und ich selbst keinerlei Schmerz oder Überanstrengung in meinen Beinen verspüre. Es geht wie Butter diesen Ventoux hoch!


Immer wieder überholt uns das gleiche Wohnmobil - Holländer natürlich. Zwei Damen springen dann aus dem Wagen und postieren sich mit Fotokameras. Wenn ich vorbei fahre lächeln sie mir zu und winken, schauen aber sogleich an mir vorbei - wahrscheinlich sollen sie den epischen Kampf ihrer Ehemänner fototechnisch dokumentieren.

Man kennt sich mittlerweile am Berg.

Wir sind schon über eine Stunde unterwegs.
Eine Stunde konstant bergan.
Eine Stunde Kurbeln in der Vertikalen.


Wo ich mich früher oftmals zwingen musste, genug und vor allem regelmäßig zu trinken, nehme ich jetzt schon reflexartig alle 7, 8 Minuten ein, zwei Tiefe Schlücke aus meinen Trinkflaschen. Ich habe die erste Flasche fast ausgeleert, eine Flasche habe ich noch komplett gefüllt: Wenn ich nach oben blicke auf die schattenfreien Steinhänge, die noch vor uns liegen, werde ich diese sicher brauchen.

Hinter mir hat Flow dagegen langsam ein Problem: Er braucht sehr viel Wasser und läuft deshalb langsam trocken. Gefährlich, bei einem Aufstieg wie diesem. Und bei 35 Grad im Schatten.


Man kommt ganz schön ins Schwitzen, das muss ich zugeben. Aber umbringen tut mich das Ganze hier nicht. Klar: Ich fahre kein Vollgas und klar ist auch, dass ich hier im Urlaub bin und nicht unbedingt den Mont Ventoux unter Rennbedingungen erobern muss, aber wenn ich mir die Fertigen und Ausgelaugten ansehe, die wir nun immer mehr überholen, schwillt mir einerseits die Brust vor Stolz auf die eigene Leistungsfähigkeit - andererseits frage ich mich, wie (un)fit hier manche in den Berg gehen.


Jedes Mal, wenn einer vor mir auftaucht, merke ich, wie vollkommen unbewusst mein Tempo steigt. So ist das wohl bei Kerlen - der Jagdinstinkt ist einfach nicht rauszubekommen.

Interessant ist es dann aber zu beobachten, was passiert, wenn ich die Jungs dann überholt habe. Denn meistens reagieren sie überrascht, manche wie aufgeschreckt - einige erhöhen sogar ihr Tempo. Dann spüre ich sie im Nacken und muss mich zusammen reißen, mich nicht alle 5 Umdrehungen wie ein Gehetzter umzudrehen.

Überholt zu werden ist für einen Kerl - noch dazu einen auf deutschen Autobahnen Sozialisierten - einfach unmöglich zu ertragen, scheint es.


Vor mich taucht ein Gelbes Trikot auf.
Ich weiß, dass es nur ein weiterer Hobbyfahrer ist, aber - vielleicht mag es die Sonne sein, die mein Hirn mittlerweile zu Matsch gekocht hat, vielleicht habe ich zu viele Tour de France-Bücher gelesen - aber ich stelle mir vor, es wäre Greg LeMond oder Anquetil oder ... ah, sehr gut ... Lance Armstrong.

Und ich? Ich wäre vielleicht ... Laurent Fingon, dieser großartige Sportler, der Mann, der zwei mal die Tour de France gewonnen hat, der Letzte einer Goldenen Zeit, der Mann, den sie aber immer alle auf diese 8 Sekunden reduziert haben, die ihm den Sieg gegen LeMond gekostet haben.

Fignon geht aus dem Sattel ... er schaltet einen Gang hoch ... nein, er schaltet zwei Gänge hoch, er blickt sich um ... hinter ihm ... Flow, er schaut mit leeren Augen knapp über den Lenker - keine Reaktion auf Fignongs Attacke zu erwarten ... Fignon beschleunigt ... kräftig zieht er an seinem Gefährt ... zieht vorbei an Armstrong, was ist das? Er schaut ihn an, ein Seitenblick! Er glänzt ihn an, nickt ... er grüßt! Fignon grüßt Armstrong! Was für ein Sportsmann ... was für ein Sieger!

"Bonjour Monsieur!", sage ich, als ich am Gelben Trikot vorbei ziehe.
Der Mann grüßt zurück. Als ich vorbei bin, klicken hinter mir seine Pedale aus. Er schiebt.


Plötzlich sind wir aus dem Kiefernwald raus. Die Straße geht unbeirrt weiter. In die Höhe. Aber die Kiefern hören auf.
Ich atme erleichtert auf, ich richte mich auf dem Sattel aus, recke und strecke mich, fahre einige Meter freihändig, trinke tiefe Schlucke von meiner mittlerweile heißen Apfelschorle und blicke mich um: Hinter mir, wie immer, kurbelt Flow, vor mir wird der Mont Ventoux von grünen Grasstoppeln bewachsen und neben mir ... geht es ganz schön tief nach unten!


Wir fahren durch eine kleine Schleife, die ein Parkplatz ist. Ein kleiner Brunnen spendet Wasser. Ich fahre langsamer, beschaue mir die Szenerie: Motorhomes stehen da zu Dutzenden, Rennradler haben ihre Maschinen an den Felsen gelehnt und erfrischen sich an der Quelle, Muttis machen Bilder von Vatis Heldenfahrt und Motorradfahrer zünden sich eine Zigarette an.

Ich lasse Flow vorbei, um ein paar schöne Fotos gegen den grandios nach unten hin abfallenden Hintergrund zu machen - die starken Kontraste zwischen dem überwältigenden Azurhimmel und dem Schwarz des kochenden Asphalts lassen allerdings keine brauchbaren Shots entstehen.


So geht es zunächst in eine riesige Felsfalte des Ventoux hinein. Schnell habe ich Flow wieder überholt, schnell habe ich wieder einige Rennradler vor mir anvisiert.

Hier und da können sich mickrige Kieferchen im Gras halten, mehr als Büschel wachsen an den Hängen jedoch nicht: Es kann nicht mehr weit sein bis zu jener kargen Mondlandschaft, die den Ventoux so einzigartig, so gefürchtet macht.

Bisher haben wir Glück mit dem Wetter: Es ist zwar heiß, fast unerträglich heiß, aber es geht kein Wind. Kein Lüftchen - der "windige Berg" scheint zu schlafen heute. Mir solls recht sein - ich fahre eh lieber in der Hitze.


Immer steiler geht es bergan, Radler um Radler überholen wir.

Dabei besehe ich mir in einem Seitenblick auch immer die Bikes. Ich kann hier generell zwei Rennrad-Typen entdecken. Der eine fährt ein Peugeot oder Bianchi aus Stahl, Achtziger, vielleicht frühe Neunzigerjahre, oft und gern auch Schmuckstücke aus den Siebzigern mit Unterrohrschaltung. Die Fahrer sind dann meist entsprechend in den 50ern oder gar 60ern, tragen aber auch mal das HTC-Highroad-Trikot der letzten Saison.
Viele haben Trikots lokaler französischer Rennradvereine an.


Die zweite Gruppe sind die High-Tech-Brüder. Sie fahren ein nagelneues Trek Madone im Leopard-Trek Look, sie fahren sündhaft teure Carbon-Laufräder, ihre Helme sehen aus wie frisch bestellt und gerade erst ausgepackt, an den Lenkern prangt ein Garmin Edge 800, man kann durch die geöffneten Trikots die Brustgurte für den Herzfrequenz-Sensor sehen - junge Typen, 30, 40 Jahre alt, nagelneue Ausrüstung.

Allen aber ist gleich: Ich überhole sie.

Den Stahlross-Retrobiker ebenso, wie den Carbon-Ritter.
Ein wirklich tolles Gefühl!


In sängender Hitze geht es nun an der Flanke des Ventoux weiter. Wir folgen lang gezogenen Rechtskurven - von hier aus sollte es schnurstracks zum Himmel gehen, ich sehe auf meinem Garmin noch eine kleine Serpentine, bevor es in die berühmte letzte Rechtskurve geht hinauf zum Observatorium.

Blicke ich die Bergflanke links neben mir hinunter, ist es, als flöge ich in einem Helikopter: Die Ebene der Rhone (ist das da hinten Avignon?) liegt fruchtbar da, grün, mit regelmäßigen, kleinen Linien durchzogen, wabern die prallen Weinhänge von Horizont zu Horizont.


Es ist ein erhebender Anblick! Ganz anders, als in den Alpen, wo man lediglich einige Sekunden lang wie durch ein Schlüsselloch der Mädchenumkleide nur dann und wann einen Blick erhascht, dann nämlich, wenn der Berg ganz kurz die Sicht durch ein tief geschnittenes Tal auf fern unten liegende Dörfchen frei gibt - niemals aber hat man im Gebirge die wirkliche Höhe, da einen jederzeit gleichhohe Berge umgeben.

Hier aber gibt es nichts außer flaches Land.
Und den weißen Riesen.


Eine weitere leichte Rechtskurve später muss ich selbst durch meine Sonnenbrille die Augen zusammen kneifen. Es ist, als werde ich von tausenden Scheinwerfern geblendet - wie, als landete ich bei einem dieser klassischen Polizeiverhöre, bei denen sie einen mit Halogenlampen blenden. Schützend die Hände vor mein Gesicht halten kann ich nicht - die Steigung erfordert sie am Lenker.

Ich drehe mich um und brülle das Naheliegende zu Flow: "Wir sind da! Das ist die Steinwüste!"

Mont Ventoux - jetzt geht der Tanz erst richtig los!


Die Straße zieht merklich an, es geht wieder steiler nach oben. In der Ferne - ich schätze so 3 bis 4 Kilometer noch - steht der schneeweiße Turm des Observatoriums auf dem ebenso schneeweißen Kalksockel des Berges. Wie schwarzer Dreck, wie Staubkrümel, erscheinen mir die Sträucher und Grasbüschel.
Es ist ein Feuerwerk an Kontrasten, meine Iris, meine Pupillen, keine Sau in meinen Augen kommt mit dem Geflirre und Gewitter, dieser Kakaphonie aus Blenden, Schattenspielen, Weiß, Blau, Schwarz mehr klar.

Auch das gehört zum Ventoux: Die Steigung multipliziert mit der optischen Schwierigkeit.
Durchschnittssteigung 7,4%.
Optische Schwierigkeit: Mindestens 6 Dioptrin!


Jetzt, wo wir kurz davor sind, in die gleißende Steinwüste einzufahren, bin ich noch einmal zusätzlich motiviert. Ich rekapituliere kurz: Wir haben in einem zeitfahrähnlichen Sturmritt die 40 Kilometer Anfahrt von Orange nach Bedoin hinter uns gebracht und sind seit mehr als einer Stunde in der Vertikalen unterwegs: Vor uns liegt nun das etwa 3 Kilometer lange, finale Stück hinauf zum Ventoux ... und meine Beine? Sie fühlen sich an wie neu geboren.

Keine Müdigkeit.
Keine Krämpfe.
Nichts.
Ich grinse.


Die Straße entlang haben sie drei Meter hohe Stahlstangen in den Boden gesteckt - sie lassen nur erahnen, wie es hier aussehen muss, wenn ein Schneesturm den Berg unter sich zudeckt oder ein klirrekalter Winter jeglichen Touristenstrom unterbindet.

Ich muss an den Col de la Bonette denken und daran, wie ich zitternd und frierend auf fast 3.000 Metern Höhe gestanden habe, vor lauter Krämpfen weder fahren noch stehen konnte, es keinen Ausweg mehr gab, eisige Flocken aus Schneeregen auf meinen Brillengläsern gefrierten und wie Nadelstiche auf meinen nackten Beinen wirkten.

Gänzlich unvorstellbar diese Szene, jetzt und hier auf dem Ventoux - es hat hier bestimmt 35 Grad im Schatten!


Dass wir uns auf heiligem Boden der Grand Boucle bewegen, unterstreichen immer wieder die Grafittis der Rennradverrückten: Die Schleck-Brüder scheinen die meisten Anhänger zu haben, hier und da taucht noch ein "Lance" auf, über einen Spruch, der Jens Voigt zum Beißen auffordert, freue ich mich besonders.
Dann und wann fahre ich über fast vergilbte, längst überholte Spruchbänder, die sich an Marco Pantani richten. Der italienische Bergkönig fährt aber lange schon nicht mehr - weder Alpe d´Huez, wo sein EPO-geschwängerter Rekord noch heute Bestand hat, noch hier am Ventoux.


Manchmal habe ich das Gefühl, als fahren wir direkt in den Himmel.
Wenn ich dereinst sterbe, so denke ich mir, könnte das genau so aussehen, wie hier: Eine Straße, die sich leicht nach oben windet, unter mir, fernab, unerreichbar und Umdrehen ausgeschlossen, die Erde, und nach oben nichts als reiner, blauer Himmel.

Dann holt mich mein eigenes Schnaufen aus dem Tagtraum, ich sehe wieder einen Radler vor mir die Vertikale hinauf eiern und dann trete ich rein. Jetzt, wo der Gipfel so nahe ist, brauche ich nicht mehr mit meinen Kräften zu haushalten.


Zwei Eurofighter donnern in perfektem Paarflug rücklinks über den Berg, ich verfolge ihre Flugbahn, sie gleiten unter uns hinab in die Rhone-Ebene, sind schon mehrere hundert Meter unter uns, gehen in eine Linkskurve und verschwinden unter monströsem Donnerrollen in Richtung Westen.

Zurück bleibt die Stille des Berges, mein Atem und das Surren meiner Kette.


Flow holt auf und fragt mich nach Wasser. Da ich noch eine halbe Flasche habe, gebe ich ihm etwas ab.

"Trink nicht alles aus", bitte ich ihn.
"Als ob Du noch so viel brauchst!", pampt er atemlos zurück.

Äh, Moment mal?! Ich bin doch nicht Dein Wasserträger?

Manchmal kann man nur den Kopf schütteln. Aber ich schiebe das auf Flows Wassermangel. Wahrscheinlich lässt ihn sein Matschhirn hier oben auch alle guten Manieren vergessen ...

Und dann kommen wir an den Ort, an dem jeder Rennradler hier wenigstens einmal kurz innehalten sollte ...


Es ist das Denkmal für den Rennfahrer Tom Simpson, der hier, genau an dieser Stelle, im Jahre 1967 gestorben ist.

"Setzt mich auf mein Fahrrad!", sollen seine letzten Worte gewesen sein. Schon im Delirium, vernebelt von einem gefährlichen Mix aus Alkohol und Aufputschmitteln, getrübt durch den Sauerstoffmangel der Höhe, zermürbt von Hitze und einer Hochgeschwindigkeitsanfahrt während seiner Tour de France - den Etappensieg, die Unsterblichkeit vor Augen, wackelt er zunächst die letzten paar Meter auf seinem Rad, eher er umstürzt.

Helfer und Doktoren sind sofort zur Stelle. Anstatt den Todeskampf zu bemerken, setzen sie ihn wirklich wieder auf sein Rad.
Er eiert los.
Wenige Meter später steht sein Herz still.
Er stürzt um.

Der Ventoux hat einen Toten.


Seit dem sie hier das Denkmal für Simpson erbaut haben, ist es diese schöne Tradition, dass die Rennradler, die hier vorbei kommen, eine Flasche Wasser, ein Gel-Pack oder sonst etwas, das der gute Mann gebrauchen könnte, auf dem Sockel seines Denkmals stehen lassen.

Und so lässt Flow unsere Flasche bei ihm.

Wohl wissend, dass sie ihm nichts mehr nützt.
Aber dieser schönen Tradition folgend, einige Sekunden Andacht, nachdenken über Sinn und Unsinn und die Frage, wie weit Menschen gehen, für ein bisschen Geld, für ein bisschen Ruhm.
Für ein gelbes T-Shirt.


Noch einmal besehe ich den Granit. Wahnsinn, was die Leute hier lassen: Klickschuhe, Schläuche, Mäntel. Flow ist so dehydriert, dass er schon beginnt, nach der Mindesthaltbarkeit der Geltütchen zu schauen, die sie ihm hier hingelegt haben.

Ich frage mich, wie oft sie das alles hier wegräumen müssen? An Tagen wie diesem, an denen Hunderte hier hoch pilgern, wahrscheinlich täglich.


Immer wieder fesselt mich der Ausblick. Wahrlich erhebend. Kein anderer Berg trübt die Sicht - da sieht man mal wirklich, was 2.000 Meter sind - im Gebirge merkt man die Höhe nicht. Hier aber, hier oben, sehe ich, was es bedeutet. Fast komme ich mir vor wie Zeus, der vom Olymp auf seine Welt schaut: Kleines Schachbrett. Menschen spielen aus dieser Perspektive keinerlei Rolle.


Dann blase ich zum Angriff. Ich kann die letzten 2.000 Meter vor mir sehen, die letzte Rechtskurve, dann das dünne, schwarze Band, das die Straße ist, nicht mehr fern, das Observatorium.

Ich beschleunige. Flow bleibt seinem Tritt treu.
Als ich einen etwas älteren Stahlross-Reiter überholt habe und ihn grüße, geht der sofort aus dem Sattel. Ein Rennen? Kannste haben!


Er bleibt genau an meinem Hinterrad und so erwacht im Angesicht des blendenden Observatoriums wieder mein Kampfgeist. Ich probiere aus, was es mit den berühmten "Rhythmuswechseln" am Berg so auf sich hat - immerhin ist es die Technik, die die großen Namen der Berge einsetzen, um ihre Konkurrenten zu zerfahren.

Ich bleibe zunächst sitzen und kurbele normal im leichtesten Gang weiter.
Dann, wie sind in einer leichten Kurve, gehe ich plötzlich in den Wiegetritt, schalte einen Gang hoch und trete weiter. Nicht schnell, vielleicht 1, 2 km/h schneller als im Sitzen.

Der Mann folgt mir weiter - auch er im Wiedertritt.

Nach einigen dutzend Metern setze ich mich wieder, schalte runter und ruhe mich einige Umdrehungen aus. Mein Verfolger ebenfalls. Ich schaue nach links. Mache ein Foto. Dann beginnt das Spiel von vorn: Dieses Mal aber schalte ich zwei Gänge hoch und stürme mit 17 km/h die Steigung empor.
Er folgt mir.
Zunächst.
Und lässt dann abreißen.

"So einfach geht das.", murmele ich mir in den salzverkrusteten Bart und grinse.


Eine Skibrille wäre jetzt ganz hlfreich. Die Flamme Rouge - das Zeichen der letzten 1.000 Meter - haben sie hier in Form eines Randsteines an die Straße gestellt. Eintausend Meter noch, eintausend mal kurbeln, eintausend mal atmen. Dann bin ich oben!

Ich blinzele, wenn ich meinen Kopf in den Nacken lege: Muss so eine Atombombenexplosion sein? Ich sehe absolut nichts mehr, vor meinem Auge tanzen weiße und hellblaue Flecken, nur, wenn ich nach unten auf den Asphalt sehe, lässt der Blendschmerz nach.


Angekommen! Die letzte Rampe. Vor mir wieder einer der Fotografen, schießt mein Zielfoto, Dokumentation meines Triumphes. Ich verneige mich vor dem sinnbildlichen Gott des Ventoux, in Stein geworden durch das mächtige Observatorium, blinzele in die Sonne, ziehe, gehe in den Wiegetritt - aus der Tour de France 2010 weiß ich, dass diese letzte Rampe, die letzte Kurve, noch einmal sehr steil wird.

Und dann?

Dann klatschen sie, die Umstehenden, Motorradfahrer, Familien, Rennradler - sie beklatschen hier jeden, der es schafft. So auch mich.

Ventoux - ich habe Dich!


Es ist ein tolles Gefühl. Erhebend - keine Frage.
Matt und doch abgekämpft kurbele ich die letzten Meter.
Freudig, fast besoffen von Endorfin und Adrenalin ignoriere ich das Stechen in meinen Lungen.


Eine Stunde und 40 Minuten habe ich gebraucht für den Ritt auf die Spitze. Eine Stunde und 40 Minuten stur nach oben. Keine Abfahrt. Keine Waagerechte, nur bergauf. Mal mehr, mal weniger, aber immer bergauf.

Ein wundervoller Berg. Mit nichts bisherigem zu vergleichen. Kein Alpe d´Huez kommt an diese Erfahrung heran. Kein Bonette und kein Col de Vars haben das, was dieser Ventoux hat.


Er war gnädig zu mir. Hat mich umarmt, ja, fast eingeladen. Das Wetter spielte mir in die Hände: Hitze, leichtes Lüftchen - perfekt, für meine Betriebstemperatur. Perfekt für niedrige Gänge und hohe Drehzahlen.

Ich habe hier alle überholt, die vor mir lagen - niemand kam von hinten. Niemand ließ mich stehen. Und dabei kurbelt hier 90% aller Rennradler mit Dreifach den Berg hinauf ...


Es herrscht Betrieb hier auf der Spitze und ich muss aufpassen, dass ich hier nicht im siegestrunkenen Taumel unter die Räder eines Autos, Motorhomes oder anderen Rennradlers gerate.

Ist die Straße noch übersichtlich mit wie auf einer Perlenschnur aufgereihten Rennradlern gespickt, ist hier oben das Plateau ein einziges Gewusel.

Ich klinke aus und drehe um: Wann kommt Flow?


Irgendwann biegt auch er um die Ecke. Er sieht mich und geht aus dem Sattel. Eine dicke Dame rennt auf ihn zu, es scheint, als wolle Mutti ihren Filius in die Arme nehmen. Skurril, ich muss lachen.
Flow aber nimmt das hier sehr ernst - klar, auch er hat gerade die Legende Ventoux bezwungen - und krazt in gewohnt hohem Gang die letzten Steigungsmeter nach oben.


Ihm steht auch dieses einmalige Grinsen im Gesicht, mit dem sie hier alle herumlaufen. Es ist diese Zufriedenheit, diese Gewissheit, etwas geschafft zu haben, das ein Großteil der Leute da draußen nicht schaffen würde. Diese fetten RTL-2-Gucker, die bequemen Sesselsportler, All-inclusive-Bucher. Wir sind anders. Heute zumindest. Wir haben uns der Vertikalen gestellt. Und sie gemeistert.


Flow grinst und grinst.
Und ich freue mich mit ihm - freue mich über uns, unseren Trip und dieses herrliche Wetter. Dieser Tag heute, der die ersten drei Regentage vergessen macht.

Oder besser: Der im Wissen um die ersten drei schweren Regentage diesen heutigen Tag umso wertvoller, umso einmaliger darstellt.


Wir sind oben.

Und ich habe erst einmal nur einen Gedanken: Essen!

Mir knurrt der Magen, ein tiefes Loch röhrt es hinunter ins Tal - könnt Ihr das nicht hören?
Flow hat da ganz andere Prioritäten, denn ihm hängt die Zunge aus dem Halse, vertrocknet, ausgedörrt. Er stürmt an den Bauchläden vorbei, die überall aufgebaut sind, hinein in den Keller des Observatoriums, er greift sich eine handvoll Orangina und beißt fast den Kronkorken vom Flaschenhals, als er ansetzt um die leckere Limonade in sich hineinzukippen.

Ich glaube, ein lautes langes Zisch zu hören ...


Dann widme ich meinen eigenen Bedürfnissen: Hunger.

Zu Dutzenden drängeln sich die Hobbyhelden der Landstraße vor drei, vier großen Verkaufsständen. Ich kann nicht genau sehen, was dort verkauft wird, aber der Hunger treibt mich an, ich schiebe einige Radler zur Seite, Hunger, Hunger ... ah ... äh ... oh.

Gummibärchen.

Naja. Nicht gerade das Richtige nach einer Stunde 40 hartem Aufstieg.

Der Salamimann ist meine Rettung.


Aromatisch liegen kiloweise deftige Würste in myriardenfachen Variationen in der Auslage. Da gibt es dicke Salami traditionell, dünne lange Salami pikant, Schlangensalami mit provencalischen Kräutern, kugelrunde Salami mit Walnüssen, Kümmelsalami für den nervösen Magen und zig andere Geschmacksrichtungen ... ich bin leicht überfordert.

Am Ende kaufe ich eine lange Dünne.

Lecker. Und sättigend fürs Erste.

Flow kommt recht glücklich dreinblickend zu mir herüber: "Zeit fürs Siegerfoto."
Recht hat er.


Wir postieren uns am Abgrund, ein netter - klar - Holländer macht ein Foto von uns. Stolz stehen wir im Aufwind, nur einen Schritt hinter mir geht es im 45 Grad-Winkel bergab. Unten liegt der Kiefernwald wie ein fluffiger grüner Teppich, dahinter wabern sanft die teuren Weinberge der Rhone.

Jetzt kann ich das Panorama richtig genießen.


Wir stehen einige Minuten da, neben uns andere Rennradler, einige Touristen, und lassen uns die Sonne auf die Nase scheinen. Da unten, da unten, knapp 2.000 Meter unter uns, da haben wir vor einigen Stunden begonnen - da hinten, da, ganz klein - ist das nicht Orange?

Mein Magenknurren weckt mich aus meiner geographischen Trance.
Gibts denn hier oben nichts zu essen?


Weiter unten, eine Serpentinenschleife tiefer, ist ein kleines Restaurant, in das wir hinabfahren. Flow füllt gleich auf der Toilette seine Trinkflaschen auf - ist billiger, als die Touristenpreise des Monopolisten hier oben zu zahlen - ich lasse mich unter einem Schirm nieder und bestelle ein megagroßes Baguette au Jambon.

Ja, Jambon, das ist nun genau das Richtige!


Unsere Rennräder haben wir wieder wie Gäule angebunden, beste Sicht in den Abgrund.
Gleich gehts los, gleich in die Abfahrt - der Lohn des Bergradlers.

Neben uns, fast wie eingekesselt, sitzen deutsche und österreichische Touristen. Muttis mit ihren dicken Kindern, Vati mit seiner Schirmmütze, versprengt die schweißnassen Rennradler, bunte Spritzer im Touriauflauf hier in der Sonne.

Schnell weg, denke ich mir und trinke den letzten Schluck kalte Orangina.

Dann geht es zur anderen, zur Nordseite des Ventoux.
Und stockt der Atem.



Anders als bei der Bedoin-Seite, scheint der Ventoux im Hintern noch einige Bergfalten mehr zu haben - wie steingewordene Wellen branden felsige Falten an den Abhang des windigen Berges. Und dann werde ich dem schmalen, sich atemberaubend steil am Abhang entlang windenden Asphaltbandes gewahr.

Unsere Abfahrt!

Flow muss schlucken - er fährt nicht gern bergab.
Ich schaue lieber nochmal nach meinen Bremsklötzen. Auch ich fahre bergab lieber sehr sehr SEHR vorsichtig!


Was nun folgt ist nicht mehr und nicht weniger als der ultimative Thrill. Nachdem wir die ersten engen, kurzen Serpentinen hinter uns haben, geht es mehr oder weniger geradeaus bergab. Teilweise mit mehr als 10%.

Wie ein ausgeleierter Korkenzieher muss ich in der Abfahrt nur ein ganz wenig korrigieren, kann, anders als noch in den Alpen, auch mal laufen lassen, fühle, wie das Rauschen des Windes anschwillt, zu einem leidenschaftlichen Knallen wir, Seitenwinde reißen an meinem Rad, ich traue mich nicht, die Geschwindigkeit zu checken, Luft staut sich in meinem Mund, frohes Jauchzen bleibt gestaut in der Rachenhöhle stecken, links, leicht rechts, leicht links, grüne Kiefern flitzen als zerrissene Farbstreifen an mir vorbei, dann die Kurve, bremsen, bremsen, sachte, runterbremsen, Kurve ... wieder loslassen, 50, 60 ... 70 km/h ... das Rauschen, das Knallen, der Speed - nur kurz schaue ich nach links, da unter uns die Erde, wie einer der Eurofighter von vorhin fliegen Flow und ich im rasanten Paarflug nach unten.

Und das Beste: Dieser Paarflug dauert eine lange lange Weile!


Nach einigen Minuten Sturmfahrt erreichen wir wieder die Baumgrenze. Ab und zu halte ich an und schaue Flow beim Durchfahren der engen Kurven zu, dann steige ich wieder auf mein Cervélo und starte die Aufholjagd.

Dann und wann überholen uns Motorräder, Immer wieder habe ich Autos hinter mir, die ich in den Kurven überholen lasse - ich bin zwar schneller, will die Dosen aber lieber vor mir als hinter mir haben. Sollte ich stürzen, will ich hinter mir lieber niemanden haben, der schnell reagieren und bremsen muss.


Abgekämpft im Anstieg hängende Rennradler zucken an mir vorbei. Ich nicke ihnen zu, rufe ab und zu "Bon Courage!"
Manche danken es mir.
Manche grüßen zurück.
Die meisten aber schauen mich nur aus tiefen, leeren Höhlen an. Sie haben hier noch einen Kampf auszufechten. Und je tiefer wir kommen, desto mehr Kampf haben sie auszufechten.


So rasant, so schnell geht es bergab, dass ich - wie schon in den Alpen - das Gefühl habe, dies hier, die Nordseite, sei der schwerere Aufstieg. Aber das scheint nur so, das Gefühl trügt.

Flow wartet weiter unten in einer Kurve auf mich. Dann radeln wir rasant, aber nicht gerade auf Rekordjagd, weiter nach unten ins Radsportmekka Malaucene. Dort stellen wir unsere Räder ab und füllen noch einmal die Radflaschen auf.

Jeder genießt noch einmal hier am Fuße des Ventoux sitzend das schöne Wetter. Nun sitzen wir hier auch als die Wissenden, als die, die es geschafft haben. Wir nicken den Aufsteigenden zu. Ihr habt einen wunderschönen, schweren, fantastischen, schlauchenden, herrlichen Berg vor Euch!


Dann spannt sich wieder die Lokomotive vor den Zug. Der ICE nimmt Fahrt auf. Flow ist wieder in seinem Element: Obwohl unsere Beine schon leicht angesäuert sind, obwohl wir gerade einen der legendärsten Berge der Tour de France geschafft haben, dreht Flow auf. Prescht nach vorn, dreht auf und bietet dem Wind Angriffsfläche - ihm aber egal, es geht mit 37, 38 km/h durch die Ebene.


Ich verkrieche mich in seinem Windschatten, greife fest den Untenlenker und versuche, mit ihm Schritt zu halten. Am markenten Wackeln seines Becken erkenne ich, dass er hier mit einigermaßen Wut im Bauch unterwegs ist: Flow hat die tolle Eigenschaft, Gegenwind persönlich zu nehmen und mit noch mehr Kraft zu beantworten.

Ein Seitenblick nach hinten - Ciao Ventoux.

Es war eine Wahnsinnsaffäre mit Dir!


Die ersten Kilometer der Rückfahrt - immerhin 45 Kilometer haben wir noch vor uns - führen uns noch über kleine Nebenstraßen entlang an wunderschönen Weinbergen durch die Ebene am Fuße des Berges. Das ändert sich einige Kilometer hinter Malaucene, als wir wieder auf die ziemlich schlechte, schlaglochreiche Schnellstraße fahren und uns den Seitenstreifen mühsam mit schweren, schnell fahrenden Trucks teilen müssen.

Flow kann das nicht bremsen. Kraftvoll wie immer peitscht er sein Rad und damit auch mich Kilometer um Kilometer durch den Wind.

Der Ritt wird immer mehr zum Gewaltritt, meine Beine schmerzen, und als wir dann kurz vor Orange noch auf die Autobahn kommen und unter heftigem Gehupe der anderen Verkehrsteilnehmer einige Kilometer mit über 40 km/h treten müssen, bin ich kurz davor abreißen zu lassen. Doch dann rettet mich das Ortseingangsschild und die Autobahnabfahrt.


Als wir unser Hotel erreichen und ich meine Beine beschaue, so dürr, so drahtig, so alles andere als die dicken Dinger, die ich aus den Radsportzeitschriften kenne. So alles andere, als das, was man glaubt zu benötigen, um einen Riesen wie den Mont Ventoux zu bezwingen.

"Alter, hast Du das bemerkt?", ruft Flow begeistert aus der Dusche: "Uns hat nicht ein einziger Rennradler überholt!"
"Stimmt nicht ganz ..." Ich grinse und beschaue mir auf dem kleinen Handydisplay das Foto vom Garmin-Cervélo Profi, der uns untem am Ventoux stehen gelassen hatte.


Es hat Stil, finde ich, dass wir unsere dreckigen, stinkenden Klamotten vom Staub des Ventoux und den Ausdünstuingen eines Heldentages wie dem heutigen von Armstrong waschen lassen - einer kraftvollen Waschmaschine, deren Umdrehungen mein Trikot wieder weiß werden lässt.

Ich sitze mit Flow beim lauen, drückenden Abendlüftchen vor dem Waschsalon, wir trinken eine Coke und sind zufrieden: Der heutige Tag war der perfekte Radsporttag.

Die Legende Mont Ventoux - ich mache ein Kreuz. Erledigt. Gemeistert. Genial