29. Juli 2011

Étape 6 Bagneres de Luchon - Luz Saint Sauveur

Götter fröhnen ihrer Allmacht, schwelgen in Sphären, die keiner außer sie selbt verstehen.
Kaiser thronen über dem gemeinen Volk. Hoch oben, weit weg, fernab der Realität.
Königen wird gehuldigt, neidvolle Blicke, ehrfürchtiges Buckeln.
Fürsten speisen von überbordenden Tafeln, orgiastische Völlerei ohne Maß.

Götter, Kaiser, Könige, Fürsten. Heute werden wir ihnen nahe kommen. Heute wird es paradiesisch werden. Heute, das schwöre ich mir, genehmige ich mir die edelsten, die leckersten Kuchen, die dünnsten Tartes und die besten Torten.

Heute ist Königsetappe.


Das Drehbuch meiner Tour de France hatte für diesen Tag eigentlich den Col de Vars, den legendären Izoard und den Lautaret vorgesehen - aber das Wetter machte uns auf dieser zweiten Etappe, wie schon am Tag vorher, einen Strich durch die Rechnung, sodass wir nur einen der drei Pässe schafften.

Deshalb will es die Dramaturgie, dass wir heute, auf der vorletzten Etappe in den Bergen, die zweite, die letzte Chance wahrnehmen können, eine Etappe von epischer Größe, von annähernder Ähnlichkeit mit den echten Etappen der richtigen Tour de France zu fahren.


Der Himmel ist grau in grau. Die Wolken hängen tief, es ist sehr früh, als wir in Bagneres de Luchon aufbrechen zu unserer Königsetappe. Sie wird nicht sehr lang sein - knapp 100 Kilometer. Aber sie wird hart werden.

Nicht weniger als 3 Pässe schreibt das Roadbook vor. Mächtig ragen die drei Zacken des Col de Peyresourde, des Col d´Aspin und die des brutalen Tourmalet im Höhenprofil auf. Ehrfürchtig schauen wir noch beim Frühstück auf die grafische Kriegserklärung an unsere Waden: Es sind knapp 3.000 Höhenmeter heute zu bewältigen, in Kilometern ausgedrückt, wird es fast 45 Kilometer nur bergauf gehen.

Und dass selbst "kleine" 7 Prozent durchschnittliche Steigung einen an den Rand der Leistungsfähigkeit bringen können, das haben wir am Mont Ventoux erfahren.


Königsetappe also.
3 Berge.

Wir schweigen, reden kaum, als wir direkt hinter Bagneres de Luchon im Kreisverkehr die große Talstraße verlassen und noch nicht ganz den Ort verlassen haben, und schon im Anstieg stecken.

Der Peyresourde hat uns.

Ich hatte mich informiert: Der heutige erste Anstieg wir uns auf eine Höhe von 1.500 Meter bringen, wir haben dabei 15 Kilometer Anstieg vor uns - im Schnitt wären das 6%.

Genug Frühsport, denke ich.



Die Straßen sind leer, keine Geräusche, selbst die Vögel, die uns noch im fiesesten Sprühregen auf dem Bonette mit ihrem Gezwitscher erfreut haben, scheinen noch in ihren Federn zu legen. So schallen die Geräusche, die unsere Shimanos ins Tal knurren, ungehindert in unsere Ohren.

Es geht recht steil bergan. Meine Beine fühlen sich prima an - ich merke es: Heute wird ein Heldentag.


Man mag es sich kaum ausmalen, wie es während der Tour de France hier abgeht: Vor allem, was die Fahrer hier leisten müssen. Wir, wir Hobbyathleten, sind froh, wenn wir die Strecke zum Pass in einer Stunde schaffen. Die Profis stürmen doppelt so schnell hier den Berg hinauf - mit 25, 30 km/h, viel im Sitzen, erst ganz zum Schluss, ihre Gegner taxierend, gehen sie aus dem Sattel und sprinten in der Vertikalen davon. Wahnsinn.

Ich kurbele wie in Zeitlupe. 11 km/h.
Hinter mir Flow in einem höheren Gang. Superzeitlupe.


Die ersten Rampen brauche ich noch, um wach zu werden. Schnell setze ich mich zwar von Flow ab, aber das Geschehen scheint wie hinter einem Vorhang abzulaufen. Mir fröstelt es leicht, die Kühle erfrischt mich, wie, als wenn man sein Gesicht an einem unglaublich heißen Sommertag in einen kalten Bergbach hält.

Erfrischend.

Ich blicke auf ein kleines Bergdorf. Alles so verschlafen.
Und wir mühen uns hier ab.


Bisher, muss ich zugeben, halten die Pyrenäen nicht wirklich das, was mein "Die härtesten Pässe der Tour de France"-Buch verspricht. Hart war der Portillon nicht wirklich. Auch nicht der Peyresourde (bisher).

Kommt denn noch die felsige, karge Brutalität in Stein?
Die fast senkrechten Abhänge? Riesige Geröllwüsten?

Unerbittlichkeit? Kommt das noch?


Was vororst kommt, ist Nebel. Es passiert in einiger Höhe, nach den ersten drei, vier Serpentinen. Flow ist längst schon außer Sichtweite. Ich stoße überraschend in die weiße Suppe. Undurchdringlich - 5 Meter Sicht. Ich fahre in einer Glocke. Ein Radius steht mir zur Verfügung. Mehr nicht. In der Mitte, stehts im perfekten Mittelpunkt. Links und rechts nichts.
Weißes Rauschen.


Wie im Erlkönig.

Wo bin ich hier? Austauschbar. So gar nicht überwältigend hier alles. Ich weiß, links neben mir türmt sich ein 1.500 Meter hoher Berg auf. Rechts neben mir muss es einige hundert Meter bergab gehen. Und doch - sehen kann ich es nicht. Nichts deutet auf die Existenz eines Gebirges hin. Nicht einmal die Existenz einer Umgebung anders als die 5 Meter, die ich in meiner Glocke sehen kann, könnte ich von dieser Position aus bestätigen.

Allein - allein.


So bleibt mir nichts weiter, als auf mein Rennrad zu starren. Dieses Faszinosum. So einfach - seit über einhundert Jahren unverändert. Der Diamantrahmen, eine geniale Erfindung. Steif, und doch so wenig, offen, eine Plattform, die es zu unzähligen Variationen gebracht hat. Zwei Räder. EInfache Seilzugbremsen, das reicht schon.

Ein Wunderwert der Mechanik. Ein Wunderwerk, dass es der alten Omi ermöglicht, einen ganzen Wocheneinkauf sicher und einfach nach Hause zu fahren. Ein Suchtmittel, dass es drahtigen Hirschen wie mir ermöglicht, tausende Kilometer mit einem 30er Schnitt zu überbrücken.

Ein Rennrad.

HighTech macht aus dem Rad ein Cervélo.


Carbonfasern. Steifigkeitsoptimiert.
Eine Dura Ace-Schaltung - präzise wie ein schweizer Uhrwerk
Und mein Garmin.

Mein neues Garmin: Trainingscomputer. Navigator. Gute Seele. Mein Tourengehirn.

Ich schalte vom Flightdeck-Modus auf den Navi-Modus. Auf dem Display kann ich die Schleifen des Asphaltes sehen, die ich noch vor mir habe. Jetzt kommt also eine Linkskurve. Ach - und da, da vor mir - und über mir - da müssten einige weitere Schleifen zu sehen sein.

Müssten.

Ich sehe hier nur weiße Suppe.


Wie aus dem Nichts surren gedämpft von hinten zwei Motorräder heran. Langsam überholen sie mich, ihr Sound schwillt zeitweilig zu bekannt lauter Zweizylinderkakaphonie an, als sie an mir vorbei sind, verschluckt der Nebel die zwei schwarzen Gestalten ebenso, wie ihren Krach. Dann wieder alleine kurbeln im weiten weißen Nichts.

Bergfahren in einer Blaupause: Nicht einmal die Steigung kann ich vernünftig sehen.


Das Fahren fällt mir zusehends schwerer - es wird steiler. Allerdings wirkt das hier oben, im weißen Labor, ganz und gar surreal. Ich erahne, wenn ich ganz weit nach rechts an den äußersten Rand fahre, dass es dort steil - steiler als 45 Grad - nach unten geht. Und allein meine Fantasie, sie reicht nicht aus, um mir vorzustellen, wie das hier aussehen mag, wenn sie den Vorhang beiseite ziehen: Blindflug.

Unter mir muss es ein wunderbares, beeindruckendes Panorama sein. Allein ich fühle mich hier wie auf Bodenniveau neben dem Elbdeich bei Winsen-Luhe. Von 1.300 Meter Höhe nichts zu sehen. Nichts zu spüren.


Immer langsamer stampfe ich mich durch die zeitweise bis auf 15% anschwillenden Kurven, dann froh darüber, dass es wieder etwas flacher mit - sagen wir - 9 bis 10% weitergeht, trete ich mich langsam Rampe für Rampe empor. Dann und wann ein Auto. Sonst stille Arbeit in weißem Abhang.

Plötzlich erfasst mich ein Windhauch. Und mit mir erfasst es den ganzen Abhang. Kuhglocken läuten, ich schaue nach rechts: Der Wind räumt den Nebel kurzzeitig weg, ein mächtiger, grüner Abhang mit einer trägen Herde Milchvieh wird sichtbar. Ein Teil des Berges, den ich hier erstreite - dann wieder deckt der Wind weiße Watte über die Szene. So, als wäre das nur ein Vorspann gewesen.

"Werfen Sie für ein weiteres Pyrenäen-Panorama bitte eine weitere Münze ein."


Ich muss dem Gipfel nun ganz nahe sein, weil der Berg mir nun im Minutentakt Einblicke gewährt. Immer wieder schieben kleine Böen die Nebelsuppe beiseite, immer wieder kann ich nun kurze Blicke auf den Peyresourde erhaschen.

Und doch: Ich denke mir, da habe ich nun einen Pass bei Regen gemeistert.
Einen weiteren bei bestem Sonnenschein.
Und heute nun eine neue Variante: Blindflug wie in der Pilotenausbildung.

Immer mal was Neues auf meiner Tour de France.


Ich biege um eine weitere Kurve, streite mich mit den Prozenten um die Vorherrschaft, als sich aus dem Nebel endlich ein Schild zu pellen beginnt: Ah, der Gipfel!

Geschafft.

Col de Peyresourde, die letzten Meter Aufstieg. Dann passiere ich das Schild. Es adelt mich. Und meine Waden. Ich stoße einen Schrei aus: Flow soll hören, dass ich schon oben bin.
Wo mag der noch strampeln? 2 Minuten Vorsprung? 5 Minuten oder gar 10?


Ein paar hundert Meter geht es fast geradeaus, am Ende, dort, woe es unwiderruflich und wirklich merklich bergab geht, steht ein Häuschen. Eine Teestube. Aus Holz, klein und fein. Sie stellen gerade die Tische heraus.

Ich lasse mich drinnen danieder und trinke eine schnelle Tasse heißen Tee.
Dann kommt auch Flow an.


Wir klatschen ab wie Männer: "Yeah, erster Berg, Digger!"
Und wahrlich, stolz bin ich.

Nicht so sehr, weil ich den Peyresourde bezwungen habe. Im Rausch des ersten kleinen Sieges heute vergesse ich den Berg völlig und seine Geschichte, den Fakt, dass hier bei Bergankünften Jungs wie Fausto Coppi, Laurent Jalabert, Bernard Hinault und vor 3 Jahren Vino gewonnen haben. Das, was mir sonst so wichtig ist - das Erfahren der echten Tour auf echten Straßen - tritt jetzt völlig in den Hintergrund.

Peyresourde? Immerhin der erste Pass überhaupt, der von der Tour überquert worden war. Und das vor genau 99 Jahren.

Für mich zählt hier jetzt nur, 30% der heutigen Berge geschafft zu haben.
Wie auch anders? Der Peyresourde hat nichts gezeigt von seiner wilden Schönheit, seinen steilen Flanken. Heute war Blindflug durch das Weiß angesagt.


Ich freue mich als ich sehe, dass die andere Seite des Berges anscheinend nebelfrei ist. Wir können sehr weit bis ins Tal schauen und so kann ich beruhigt nach meinem heißen, wärmenden Tee in die Abfahrt gehen: Wir stopfen uns die geklauten Frottee-Handtücher aus dem Hotel unter die Trikots, kurzes Anschieben, Abfahrt!

Schnell erreichen wir über 60 km/h auf der ersten, beinahe schnurgeraden Rampe.


Unter mir, noch etliche Höhenmeter tiefer, liegt ein kühler Bergsee wie ein blaues Auge in den saftigen grünen Wiesen. Ein herrlicher Anblick! Zumal hier die Sonne scheint, als sei nichts gewesen: Alle Farbe, die es auf dem anderen Hang des Berges nicht gibt, scheinen dafür hier verbraucht worden zu sein.

Vor lauter Grün und Sonne sind wir geblendet und manövrieren uns eher vorsichtig um die steilen Kurven.


Es ist bei jeder einzelnen Abfahrt so faszinierend, nach unten zu kommen. Immer das selbe Ritual, immer die selben Vorgänge: Noch weit weit oben sind es knackige, kurze Serpentinen. Sehr steile Abhänge, die einen in kürzester Zeit beschleunigen, wenn man die Bremse loslässt. Die Straßen sind meist ob des ruppigen Wetters recht in Mitleidenschaft gezogen, Split und Schlaglöcher sollten den Radfahrer nicht zu allzu berauschenden Geschwindigkeitsorgien anhalten.

Je tiefer man kommt - oder besser: je mehr man wieder in die Zivilisation eintaucht - desto weniger Kurven gibt es, die Serpentinen gehen in längere, sich seicht in den Hang schlängelnde Geradeausstücke über, die zwar weniger steil sind, dafür aber sehr viel schneller gefahren werden können.

Man traut sich nun auch mehr.



Auf dem Rücken des Peyresourde halte ich dennoch eher wenig an: Hier will ich die Abfahrt in Gänze genießen, wenn schon der Anstieg keine schönen Ausblicke für mich bereit gehalten hat.

Nach 15 Kilometern und einigen - schier endlosen - Minten im Geschwindigkeitsrausch sind wir im Tal.

Col de Peyresourde geschafft.
Wo bitte gehts zum nächsten Berg?
Col d´Aspin gefällig? Ja?

Hier entlang, bitte!


Wir haben auch nicht lange zu warten - das Zwischenstück, das ebene Intermezzo zwischen Peyresourde und dem zweiten Zacken im heutigen Höhenprofil ist nur kurz. Wenige Kilometer nur schlängelt sich die Straße nach Arreau.

Majestätisch ragen Berge groß und grün neben uns in die Höhe. Tief eingeschnitten das Tal. Und noch immer: Ab und zu geht es seicht bergan. Seicht bergab.

Es sind die Kilometer, auf denen Flow wieder seine Fähigkeiten ausspielen kann, sich an die Spitze setzt und kräftig reintritt.


Kurz vor Arreau lockt eine nagelneue Umgehungsstraße uns in einen kurzen, aber heftigen Geschwindigkeitsrausch: Quasi als Zugabe zur Abfahrt vom Peyresourde werden wir nahezu senkrecht, wie durch einen Fahrtsuhlschacht fallend, unvermittelt extrem beschleunigt. Wow!, denke ich mir und kann gerade noch in die aerodynamisch günstige Untenlenkerposition gehen, um das kurze Schauspiel zu genießen.

Wehe dem, der hier herauf muss. Alter Schwede!


Arreau durchfliegen wir deshalb, ich kann nur wenige Seitenblicke auf dieses malerische Städtchen werfen. Ein Fluss rauscht schäumend durch die Stadtmitte - sein Gefälle ist ein untrügliches Zeichen unserer Höhenlage. Hochalpin, nennt man das wohl. Kurz vor Ortsausgang schießen wir voller Speedrausch fast schon am Hinweisschild vorbei: Eingang zu Berg Nummer zwei - der Col d´Aspin bittet um Audienz.


Dass wir hier auf historischem Boden fahren, sollte spätestens jetzt jedem Freizeitpedaleur klargeworden sein. Stolz haben sie hier eine Stele für den Radsport aufgestellt: Seit 1910 geht es hier regelmäßig über den Pass.

Wir halten kurz inne, Flow fängt an, umständlich an seinen Klamotten zu fummeln: Ich fahre schon einmal los. Den Aufstieg genieße ich am liebsten allein.


Ein weiteres Schild, nur wenige hundert Meter steigert meine Vorfreude ins Unermessliche: Wo ich bis vor wenigen Tagen im Zuge meiner Vorbereitungen für diese Tour noch vollkommen im Dunkeln getappt bin, wie es wohl sein würde, diese "härtesten aller harten Tour de France-Pässe" in Angriff zu nehmen, kann ich jetzt beruhigt sein: Ich schaffe das! Keine Frage, kein Zweifel!

Und so weicht Unbehagen, all die Fragezeichen, die Unsicherheit und der allzu übermächtige Respekt einer unbändigen Vorfreude: Hier ist sogar schon der Tourmalet ausgeschildert!

Schade, dass ich für mein Garmin Edge nicht den Herzfrequenzmesser zugekauft habe: Der Sprung auf 200 hätte sich super in der Statistik gemacht.

Und dann geht es auch schon nach oben.


Der Aspin ist vollkommen nebelfrei: Immerhin steht die Sonne fast im Zenit, es ist heiß aber eine steter Wind kühlt mich auf eine angenehme Temperatur herunter. Schnell habe ich die ersten Serpentinen hinter mich bringen können: Mich wundert, dass diese berühmte Straße kaum breiter als ein Auto ist - begegne ich einem Wohnwagen, muss ich hier schon sehr aufpassen, nicht erfasst oder abgedrängt zu werden.

Die Aussicht von hier indes ist atemberaubend!


Das Tal unter mir entfernt sich zusehends, ich gewinne mit jeder Kubelumdrehung, so scheint es, immer mehr und immer schneller Abstand zur Welt da unten. Das Ordinäre, die Routine, das Normale, es bleibt unter mir liegen, hier, hoch oben, ist eine andere Welt, eine leichtere, eine schönere - entfernt, weit weg, hoch oben.

Man kann hier alles hinter sich lassen.
Radfahren als Therapie.
Als Alltagskiller im positivsten Sinne.



Von Flow ist nichts zu sehen. Er wird wohl noch eine Pinkelpause oder ... schlimmeres ... eingelegt haben. Mir läuft der Schweiß in Strömen, es ist anstrengend, aber ich stecke voller Endorfine, Freude ist es, die da in meinen Waden brennt, keine Ermüdung, ein Lächeln ist es, dass meine Lippen zurechtzittern, es sind Freudenschreie, die mein Atem hervr presst.

Klar die Luft hier oben - ein Paradies. Gegenentwurf zum weißen Blindflug von vorhin. Perfektes Radwetter, wo sind die Filmkameras, wenn man sie braucht? Her mit Euch, hier gibt es epische Bilder, die Ihr filmen könntet!



Arreau bleibt unter mir zurück. Über mir nur blauer Himmel. Neben mir - weit, weit entfernt - Brüder meines Aspin. Grüne Kuppen im Vordergrund, ruppige, schneebedeckte Felsen im Hintergrund. Die größte Theaterkulisse, wahrlich, die beste Kulisse, die sie sich haben ausdenken könnten, um ihr Stück, Epos vom Helden der Landstraße aufzuführen.

So anspruchsvoll Mannschaftszeitfahren auch sein mögen.
So spannend auch immer Einzelzeitprüfungen sind.
Und so mitreißend der Kampf an der flachen Windkante ist.

Nichts geht über die Schlachten in der Vertikalen.


Irgendwann nach 30, 40 Minuten sind die überreichlich mit Panoramablicken gesegneten Abschnitte entlang am Abgrund des Aspin zu Ende - die Staße wendet sich nach innen - es scheint, als haben sie die letzten Kilometer geradewegs in den Abhang hinein gelegt.

Es zieht merklich an, ich trete langsamer, muss mehr Kraft aufs Pedal bringen, kontrollierter Druck in die Kurbeln leiten. Dann und wann gehe ich in den Wiegetritt, schalte einen Gang höher und versuche, ruhig, mich zügelnd beständig die Steigung hinaufzuwuchten.


Minutenlang kann ich oft vollkommen allein fahren. Verlassen, ein Arbeiter in der Steigung, allein, über allem thronend, allein, Herrscher der Berge. Oder Beherrschter?

Selten zuckeln Autos vorbei, Motorradfahrer schon öfter. Was ich nicht sehe, sind Rennradler - wie schon am Peyresourde, wo ich es ob des Wetters und der Frühe verstehen konnte, zeigen sich am Aspin keine Hobbysportler. Dabei sind Wetter und Berg geradezu in Paradelaune: Würden sie hier heute ein Profirennen live auf Eurosport übertragen, es gäbe die schönsten Bilder!


Endlich zieht die Straße mal wieder "in den Berg" - der Aufstieg zum Aspin hat sich bisher eher am Abhang um den Berg gewickelt, dass man nur höchst selten auf die Straßen unter einen blicken konnte: In Alpe d´Huez hat der Rennfahrer dadurch einen Vorteil. Er kann jederzeit die Verfolger unter ihm sehen, kann Abstände und Vorsprünge einschätzen. Hier am Aspin geht das nicht (außer jetzt ganz kurz mal).

Taktisches Fahren wird dem Rennfahrer oder sportlichen Leiter erschwert.


Langsam weichen wieder die Berge zurück. Saftige, weitläufige Almwiesen glänzen giftgrün in der Sonne. Komisch, noch vor wenigen Tagen war ich in den Steigungen dermaßen fertig, dass ich mich höchst konzentrieren musste, bewusst und kontrolliert meinen Rhytmus zu fahren. Heute gelingt mir das fast schon intuitiv: So habe ich Zeit, mir das mich Umgebende eingehender anzusehen.


Tour de France-Graffiti erinnern mich an die sportliche Geschichte dieses Aufstiegs: Der 1.400 Meter hohe Pass steht ebenfalls seit Anbeginn der Großen Schleife auf dem Programm - von den 98 Touren durch Frankreich haben sie diesen Pass schon ganze 67 mal überquert. Ein Witz gegen die nur 14 Male, die sie sich den Mont Ventoux hinauf gekämpft haben.

Fast verblichen, aber immer mal wieder, fallen mir auch deutsche Namen auf: Ulle. Jan Ullrich, einziger Tour de France-Gewinner aus deutschen Landen und (das wird so oft vergessen) 5-maliger Tour de France-Zweiter findet sich ebenso oft, wie Erinnerungen an Sprinterlegende Erik Zabel oder den noch aktiven Jens Voigt.

Vertrautes Terrain. Irgendwie.


Plötzlich taucht vor mir dann doch ein anderer Rennradler auf. Die Rampe, die wir gerade fahren, ist nicht besonders steil und ich überlege kurz, ob es so sinnig ist, ein paar Körner mehr zu verschießen, nur um mein Ego zu beruhigen: Denn obwohl der Pasgipfel nur noch wenige Kilometer entfernt ist, wartet da immerhin noch ein Tourmalet auf mich. Und der soll - wenn man Blogs, Büchern und den Tour de France-Kommentatoren Glauben schenken darf - neben Izoard und Galibier der fieseste aller Anstiege sein.

Aber meine Beine fühlen sich heute dermaßen gut an, dass ich es einfach mache. Raus aus dem Sattel. Ein Gang hoch. Ach was, einen zweiten Gang noch. Und dann treten.
Langsam komme ich an den vor mir Tretenden heran.

Heißa - ein Spaß und faszinierend zugleich: Wie schnell man in der Steigung an Leute rankommt.



Und auch von ihnen weg kommt. Kaum habe ich den - zugegeben schon etwas betagteren - Rennradler hinter mir, taucht vor mir plötzlich ein zweiter auf. Aber der ist kein lohnendes Ziel: Schon ist er abgestiegen und verschnauft.

Vor lauter Adrenalin, die dieser kurze "Angriff" durch meine Adern pumpt, habe ich gar nicht gemerkt, dass es wieder merklich steiler geworden ist. Und so setze ich mich in meinen Sattel und schalte wieder auf Normalmodus.


Jetzt muss ich die Rechnung zahlen: Hitze steigt in mir auf, der Schweiß läuft in Sturzbächen und jedes Mal, wenn ich meine Hände zu Fäusten balle, presst es Wasser aus meinen vollgesogenen Handschuhen.
Unter dem Rucksack hat sich mein Rücken in eine glühende Herdplatte verwandelt, so scheint es, und das, was sich da im Mikroklima meiner Klickschuhe abspielt, könnte den Forschern am Max Planck-Institut als autarkes Forschungslabor zur Entstehung des Lebens dienen.


Schwindel erregend nun die Ausblicke nach unten: Gebärdet sich der Aspin im unteren Teil eher als langweiliger, grüner, familientauglicher Sonntagsausflugsberg, so verändert er nun schlagartig sein Gesicht: Es geht fast senkrecht bergab unter mir. Bei so mancher Kurve muss ich grinsen, mir Flow vorstellend, der beim Anblick wahrscheinlich wieder vor lauter Höhenangst direkt am sicheren Felsen entlang kriechen wird - auch wenn der auf der Gegenseite der Fahrbahn steht.

Atem beraubend mitunter das Panorama. Okay, DAS sind nun also die faszinierenden Pyrenäen!


Als ich nur noch wenige hundert Meter unter dem Gipfel bin, nimmt die Sportlerdichte merklich zu: Anscheinend fährt der gemeine Passfahrer erst weit nach dem Frühstück los - und anscheinend ist der Anstieg über die Westflanke der beliebtere. Obwohl dieser weniger Höhenmeter, weniger Steigung und wenige Länge bietet.

Oder gerade deswegen?



Über mir kann ich die vielen bunten Trikots sehen, mein Herz macht einige Sprünge voller Vorfreude, das Unterbewusstsein blendet die Rückmeldungen meiner erschöpften Beine, meines schmerzenden Rückens und der brennenden Lunge völlig aus und bietet mir sogar Extraenergie für den Endspurt an: Aber ich bleibe ruhig sitzen. Die zwei Minuten habe ich auch noch!

Am Abgrund neben mir trennt mich nur eine 20 Zentimeter hohe Steinmauer von einem knapp 700 Meter tiefen Abhang. Da ganz weit unten ist das Tal. Weit weg nun. Unfassbar, immer wieder, wie sehr einen der Pass nicht nur vom Boden, sondern von seinem gewohnten Ich entfernt. Wie sehr er einen erhebt.



Wenige Meter vor dem Ziel sparen sie dann auch die Steinmauer ein. Ein wackeliger Zaun bietet die letzte, mit Stacheldraht doch eher schmerzhafte Barriere, vor dem Abflug. Mit fast 100 Prozent geht es da bergab. Nur etwas für Hirtenhunde und Bergschafe.

Über mir: Gedrängel und babylonisches Heldengeschnatter.



Bevor ich mich ins Geschnatter begebe, genieße ich noch kurz die relative Ruhe hier unten, keine 50 Meter vom Gipfel entfernt. Ich steige ab, stelle mein Rad an einen der Steine und muss ein Foto vor der Leere machen. Angehoben auf eine andere Ebene. Unter mir nichts als Natur: Kein Mensch zu sehen. Kein Haus. Kein nichts. Nur die schmale Straße, die sich hier, den letzten Kilometer so atemberaubend am steilen Abhang entlang schlängelt.
Ein wundervoller Anblick: Drüben die anderen Berge. Darüber azurblauer Himmel.

Ein Genuss.


Und dann der Sieg. Fast 1.500 Meter Höhe dann doch. Das Schild, schon hundertfach von Fanaufklebern befreit, kündet von einem weiteren Erfolg: 60% der heutigen Berge geschafft!
Zwei Drittel der Königsetappe hinter mich gebracht.
Den zweiten Zacken im Höhenprofil, vor dem ich heute so Respekt hatte, erklommen.

Süßer Sieg.

Ich beobachte: Fast alle grinsen sie hier oben so wie ich. Sie alle haben ihre eigenen, kleinen Schlachten hier am Berg geschlagen. Sie alle haben hier heute ihre eigenen, kleinen Siege errungen. Kollektives Glücksgefühl: Auch um dieser Momente Willen betreiben ich den Sport mit so viel Leidenschaft.


Es finden sich ebenso junge Rennradler mit ihren Carbonwaffen ein, wie gealterte Daddies, die ihre Peugeots und Bianchis mit Unterrohrschaltung hier hoch gewuchtet haben - und zu meinem Erstaunen auch jede Menge Damen.

Oben am Pass gibt es beim Aspin zwar diesmal keine Hütte, dafür aber einen veritablen Parkplatz mit bester Aussicht.


Wir sind genau auf Wolkenhöhe: Die sicht auf den Berg gegenüber ist wie in zwei Hälften geteilt. Als habe der liebe Herrgott mit einer riesenhaften Sprühflasche eine Spur Schlagsahne mitten durch die Pyrenäen gezogen.

So stehe ich da, etwas abseits vom Trubel, und genieße den Blick hinab ins saftig grüne Tal: Entzückt vom entrückten Hier und Jetzt da unten.


Hinter mir trudeln immer wieder Motorradfahrer, Wochenendeausflügler und natürlich Rennradler ein. Ein älterer Herr versucht, aus seinem Transporter heraus selbst gemachten Pyrenäen-Käse an den Mann zu bringen: Irgendwie verrückt, denke ich mir: Da karrt er seine Erzeugnisse die Serpentinen hier herauf, um an die paar Touristen "echten Bergkäse" zu verkaufen, die den dann wieder hinab ins Tal tragen, womöglich ins Hotel im selben Ort, wo der Mann den Käse heute morgen in den Laster geladen hat.

Für Rennradler allerdings hat er nichts im Angebot: Und dabei wäre eiu Stand mit Sandwiches und kalten Getränken eine Goldgrube hier oben.

Nach etwa 10 Minuten ist auch Flow angekommen.
Er lässt sich gleich ins Gras nieder.
Zieht seine nass geschwitzten Socken aus.

Und scheint damit einiges Aufsehen bei den Wiederkäuern zu erregen ...


Eine riesige Kuh nähert sich behenden Schrittes dem Ächzenden. Die umstehenden Rennradler suchen das Weite, die Kuh beschnuppert die fragwürdig duftenden Beine Flows. Ob sie das lecker findet?

Bald hat auch der Rest der Herde anscheinend Witterung aufgenommen.

Fressen Kühe Carbon?, frage ich mich, und schreite lieber zur Rettung meines Cervélo ein, als sich eine Kuh meinem Rennrad nähert.


Wir bleiben nicht lange: Flow zieht sich nur die langen Klamotten aus, ich selbst bin ja schon eine Weile hier und da es hier oben kaum mehr spektakuläre Dinge als eine schicke Aussicht zu sehen gibt, satteln wir alsbald die Pferde: Und in mir quillt wieder diese Vorfreude hoch.

Sicher, da steht gleich erstmal eine knapp 10 Kilometer lange Abfahrt vom Aspin an.
Aber dann.

Dann kommt er endlich. Endlich der große Name. Endlich ein Berg vom Rang eines Ventoux: Der mächtige Tourmalet!


Und so stürzen wir uns in die Serpentinen - Flow voraus, wie immer, denn er fährt nicht gern schnell hinterher. Mir macht das nichts aus. Ich lasse 200, 300 Meter Abstand zu ihm und lege mich dann genüsslich in die Kurven.

Kalt wird es am Oberkörper, wenn der Fahrtwind von 60, 65 km/h die wärmende Sonne übertrumpft. Wieder und wieder bremse ich mich hart in die engen, sehr steilen Kurven hinein, dann langsam loslassen, die Augen zum Mittelpunkt, dann vorauswandern lassen - wie von Zauberhand fährt das Rad hin, wo ich hinsehe.

Es fasziniert mich immer wieder.

Trotzdem: Ein guter Abfahrer bin ich längst noch nicht. Kaum mehr als 70 km/h lasse ich zu. Weit weg von den Geschwindigkeiten, von denen andere Hobbyfahrer berichten. Und Welten entfernt von den 90, 100 km/h, die die Profis hier bei der Tour de France erreichen.

So trudeln wir am Fuße des Aspin in ein kleines Dörfchen, Souvenirläden und eine riesige Terrasse mit Bar laden zum Verweilen ein. Ich ordne eine Essenspause an: Immerhin ist Mittagszeit.


Wir lassen uns zum kurzen Picknick nieder, ich bekomme das größte Salami-Käse-Baguette der Welt, Flow seinen Kakao und so scheint uns die Sonne wärmend auf die verkühlten Bäuche: Savoir vivre wie es sich gehört!


Vor uns am Abhang versuchen sich Rookies am Gleitschirmfliegen - aber es will nicht so rechte Thermik aufkommen, weshalb sie nie weiter als 50, 100 Meter fliegen.

Immer wieder halten Autos mit Rennrädern auf dem Dach, Männer steigen aus, ziehen sich um und treten bergan. Wahrscheinlich kehren sie oben angekommen wieder um, packen die Räder wieder ein und sind pünktlich zum Kaffetrinken wieder zu Hause. Was muss das geil sein, ein solches Trainingsgebiet vor der Tür zu haben?


Dass sie hier das offizielle Eis der Tour de France haben, adelt mein Bike und so überlege ich noch kurz, mir einen Teil der Girlande für zu Hause mitzunehmen. Na, meine Freundin wird sich freuen ... ich lasse es lieber.

Nach 30 Minuten in der Sonne essen brennt es nun Flow, der eigentlich immer der letzte ist, wenn es darum geht, Freiwillige für einen Anstieg zu finden, unter den Sohlen: Er will jetzt endlich los. Endlich los zum Tourmalet!

Wenig später rollt es wieder.



Zunächst geht es noch einige Kilometer nach Nordwesten auf der 918 bergab. Ich rolle Flow wieder hinterher - für meine Begriffe gibt er hier, wo es wieder flacher wird, angesichts des Tourmalet, wieder ein bisschen zu viel Gas. Aber wie immer ist er nicht zu bremsen und wenn er eben in der Ebene so gern so schnell fährt - die Rechnung wird er nachher halt selbst zu zahlen haben.

Nach 10 Kilometern erreichen wir das kleine Dörfchen Sainte-Marie de Campan. Geradeaus geht es nach Bagneres de Bigorre, einem weiteren Juwel der Tourgeschichte, wir aber knicken mit der 918 auf Südkurs.


Gleich hinter der Abbiegung steht es mächtig drohend da: Das Schild.
Col de Tourmalet. Geöffnet.
Übergroß.

Am Ziel so vieler Träume: Was habe ich nicht über diesen Pass gelesen? Welche Dramen haben sie hier abgespielt, welche Siege sind hier gefeiert, welche Niederlagen hier zu ertragen gewesen. Ein Wort, ein Klang, in meinen Ohren so fesselnd: Tourmalet.

"Beschwerliche Route" heißt es übersetzt. Und nicht mehr und nicht weniger erwarte ich jetzt.
Schweige. Und Freude.

"Gehts los?", frage ich Flow.
"Jo, fahr mal - ich gehe mal in den Busch."


Während Flow knapp hinter dem Ortsausgangsschild einen Haselnussbusch zu düngen beginnt, trete ich rein: Stelle mir vor, ich sei in barodeurhafter Manier vom Peloton ausgebrochen, bekäme die Anweisung, reinzuhauen, alles was geht. Nun mach, Junge!

Anfangs geht es noch sehr flach zur Sache. Ich kann mit über 30 km/h die ersten Kilometer überbrücken. Der Tourmalet ist am Fuße nur leicht wellig.


Noch reihen sich kleine Bauerngehöfte an einander. Pitureske Dörfchen: Kirche, Boulangerie und Traktoren, die auf dem Gehweg parken. Ich schwitze schon, aber der Gedanke, das Peloton hinter mir zu wissen, treibt mich an.

Das Pelotin: für mich ist es Flow, der sich jetzt wohl gerade versucht, aus den Blättern des Busches notdürftig Klopapier zu basteln. Das Rennen, es ist für mich diese unausgesprochene, aber doch irgendwie spürbare Konkurrenz zwischen uns beiden. Genährt durch die Schmach der ersten Etappe, die ich halb erfroren abbrechen musste und die er - halb erfroren - durchgezogen hat.


Seit dieser Schmach. Seit seinen jubilierenden Blicken. Den kleinen Sticheleien am Frühstückstisch. Seit dem er diesen Pluspunkt für ewig in seinem Palmarés dieser unserer Tour de France hat - seit dem kann ich ihn am Gipfel nicht gewinnen lassen! Ich kann es nicht!

Ich musste am Ventoux vor ihm oben sein. Am Peyresourde. Am Aspin. Und ihn hier am Tourmalet zu schlagen, am letzten Berg dieser Königsetappe - am Berg der Berge unserer Tour ... nun, es wird die Schmach des Bonette nicht vergessen machen. Aber doch immerhin mein Ego etwas füttern.


Und dann geht es auch schon etwas steiler zur Sache. Waren die ersten Wellen nur belangloses Vorgeplänkel, geht es nun merklich nach oben. Ich rekapituliere: Ich fahre die Ostrampe über La Mongie - 17 Kilometer liegen vor mir. Damit ist der Anstieg zum Tourmalet einer der längsten unserer ganzen Tour.

Im Schnitt geht es hier mit 7,4% Gradient bergan. Aber Schnitte, das haben wir schon so oft bemerkt, sind kein Indikator für nichts. Da hatten wir schon an 6%-Bergen ein paar Rampen serviert bekommen, dass es nur so gescheppert hat im Kniegelenk ...


Mit 2.100 Metern ist der Tourmalet immerhin auch der höchste Straßenpass der Pyrenäen - und schon seit dem die Tour de France hier 1910 das erste Mal (damals noch auf Schotterpiste) ist er zur Legende geworden: Einen Pass später brüllte Octave Lapize oben angekommen den Tour-Direktor Desgrange an: "Mörder, Ihr seid Mörder!"

Der Tourmalet ist "Hors Categorie" - wie Galibier, Alpe d´Huez oder der Ventoux also außerhalb jeglicher Kategorisierung.

Das schwerste vom Schwersten.


Immer wieder überhole ich Rennradler, die am Straßenrand parken und verschnaufen. Wie bitte? Noch 16 Kilometer to go und schon anhalten?

Ich selbst fühle mich einfach nur prächtig: Es scheint, als habe der Peyresourde nicht stattgefunden. Es ist, als gäbe es den Aspin nicht. Wenn man meine Waden interviewen würde, sie würden wohl antworten, dass sie gerade erst aufgestanden wären und bereit sind, sich der Herausforderung Tourmalet zu stellen.
Ob ich mir das nur einbilde?

Aber hey - ich fahre. Und ich fahre schnell ...


Der Tourmalet ist auch deshalb Hors Categorie, weil er eine ganz feine Überraschung für die Sportler, die ihn bezwingen wollen, parat hat: Seine Steilheit nimmt mit jedem Höhenmeter zu. Ich habe bereits davon gelesen, konnte mir aber, daheim im flachen Hamburg, natürlich keinerlei Reim darauf machen, wie es ist, einen Hochebirgspass zu überqueren.

Jetzt - und zwar noch immer so ziemlich am unteren Anfang der Strecke - spüre ich, worin die Härte des Tourmalet besteht: Merklich zieht die Steigung an.


Es geht zunächst duch dichten Wald, was angesichts der hohen Temperaturen, die wir an diesem frühen Nachmittag haben, sehr angenehm ist. Konnte ich unten am Fuße noch locker pedallieren, muss ich jetzt schon den Lenker etwas fester halten, muss noch mehr Energie in die Pedale bringen.

Drehe ich mich kurz um, liegt die Strecke nicht hinter - sondern unter mir.


Wir haben die Variante ab Osten über den Skiort La Mongie gewählt, der, noch weit entfernt über uns liegt. Bis dahin aber ist es noch ein weiter weg.

Wie in Trance trete ich mich Rampe um Rampe nach oben: Noch scheinen die Prozente hier nicht im zweistelligen Bereich zu liegen, aber immer wieder, vor allem in den engen Kurven zur nächsten Rampe, zieht es dermßen an, dass, wer hier nicht rechtzeitig aus dem Sattel geht oder Schwung holt, unweigerlich stecken bleiben muss.


Dann aber folgen auch wieder Passagen, bei denen es bis zu 1.000 Meter einfach nur seicht schlängelnd an einem Abgrund entlang geht. Sehr angenehm sind diese Passagen nicht: Die Langeweile nudelt einen ein, Konzentraionsmangel produziert Fehler, kleine Schrecksekunden, wenn ich dann auf der gegnerischen Fahrbahn aufwache oder mich dabei erwische, wie ich allzu motiviert einen Rennradler vor mir ins Fadenkreuz nehme und zu überdrehen beginne.

Da liegen mir die engen, kurzen Rampen doch eher: Hier gibt es wenigstens Schatten. Und man muss alle paar Minuten den Rhythmus wechseln.


Irgendwann, ich habe jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren, strample ich mich über die Baumgrenze. Es wird kühler. Nebelschwaden hängen über mir: Schade nur, dass diese Idylle von einigen bunten Punkten vor mir - andere Rennräder - gebrochen wird. Sie erinnern mich immer wieder daran, dass dies hier Rennstrecke ist und fordern mich heraus, wo ich das hier doch alles genießen wollte.

Aber ich kann einfach keinen so vor mir dahinfahren lassen ...


Wieder legt der Tourmalet ein, zwei Prozentchen drauf. Die Legende des Berges, sein HC-Status begründen sich unter anderem auch damit, dass, anders als bei anderen Bergen, der Radfahrer vom Berg nicht belohnt wird. Je weiter man nach oben kommt, desto steiler wird er.
Je mehr man ihm an Höhenmetern abnimmt, desto mehr Prozente packt er drauf.
Je glücklicher man ist, höher zu kommen, desto deprimierter wird man wegen seiner Steilheit.

Auch jetzt merke ich es: Aus 12 km/h sind 9 geworden.
Es knackt verdächtig im Gebälg meines Tretlagers: Untrügliches Zeichen dafür, dass da richtig Watt ins Carbon gedrückt wird.

Und jetzt fängt es auch an, weh zu tun.



Rechts neben mir tut sich eine mächtige Schlucht auf. Wir haben die meisten Serpentinen im unteren Bereich des Tourmalet schon hinter uns: Nun gilt es, fast schnurstracks geradeaus entlang dieses Höhentals bis La Mongie zu treten.

Ich drehe mich um: Ist das Flow?

Rotes Rad, weißes Trikot, roter Helm. Flow.
Verdammt! Wie ist der so nah herangekommen?
Panik quillt hoch. Über den Teamfunk, den ich mir einbilde, bekomme ich die Abstände und die Warnungen des Directeur Sportif gesagt. Gib Gas, Junge!

Flow rankommen lassen?
Vorbei lassen?

Hier am Tourmalet?
Ich trete rein ...


Auch wenn es schmerzt. Und auch wenn es lächerlich ist - für mich ist das jetzt und hier, mitten in der Schräge, das wichtigste der Welt: Flow, der Bezwinger des Bonette, die harte Sau, die es geschafft hat, mit vollkommen durchnässten Klamotten bei 4 Grad und Schneeregen die höchste Gebirgspaaastraße Europas zu bezwingen - am Tourmalet darf er nicht siegen!

Denn noch immer stelle ich mir vor, wie wir beide in Paris ankommen - und dort will ich das Gepunktete Tragen. Das Maillot á Pois Rouges. Es ist mein. Es muss mein sein! Und nur weil ich in der ersten Etappe so eine Memme war - oder halt: WEIL ich bei der ersten Etappe so eine Memme war, muss ich hier und heute am Tourmalet siegen.
Muss.
Muss!


Schwer wird es, richtig schwer: Irgendwie ganz unten, weit weg, ist ein kleiner Ort im Tal, obwohl ich weiß, dass selbst dieser Ort auf einigen hundert Metern Höhe liegt. Immer wieder aber wende ich meinen Blick von der atemberaubenden Landschaft und starre atemlos nach hinten zu Flow: Ist er näher gekommen?

Ihm davon fahren, das ist nicht mein Ziel. Noch nicht - vielleicht. Erst einmal will ich ihn auf Abstand halten. Will ich, dass falls es sein Ziel sein sollte, mich einzuholen, ihm nicht gelingt, seinen Abstand zu verkleinern. Schon in Alpe d´Huez hat es gereicht, dass ich zwei kurze Antritte von ihm pariert hatte - schon hatte er aufgegeben und war fortan seinen eigenen Stiefel ohne Ambitionen, Erster zu werden, gefahren.

Aber hier, am Tourmalet, auf der Königsetappe ...?
Hier am Tourmalet, dem letzten Berg unserer Tour ...?

Nein, er darf nicht gewinnen!


Irgendwo wor mir schälen sich die Schneetunnel aus dem Nebel. Und weiter dahinter erkenne ich La Mongie, den Skiort, in dem Lance Armstrong oder Ivan Basso Etappensiege feiern konnten.

Noch immer treten wir die relativ gerade Straße empor: Und so glasklar, wie ich einen Rennradler vor mir erkennen, anvisieren und angreifen kann, genauso glasklar sieht mich dann wohl Flow vor sich. Und arbeitet. Und arbeitet.

Diese Steilheit ist der helle Wahnsinn! Es mögen allein in diesem Teilabschnitt gute 9% Gradient im Schnitt sein. Fuck! Die Waden brennen!


Und dann geht der Tanz los: Kurz vor den Schneetunnels wirft der liebe Herrgott noch ein, zwei Prozent drauf. Zwei kurze, aber sehr steile Rämpchen muss ich nun bezwingen, bevor der Tunnel vor mir ein paar hundert Meter Schatten und damit Schutz vor der sängenden Sonne bietet: Stehend quäle ich mich förmlich die kurzen, keine 20, 30 Meter langen Stücke empor.
So langsam, dass Flow hinten sehr schnell nahe kommen kann.

Gut für sein Ego.
Schlecht für meins.

Wow, geschafft!, denke ich, als es endlich wieder in die "nur" 9% des normalen Anstieges geht. Ich lasse mich in den Sattel plumpsen, mein Herz scheint mit 190 zu pumpen. Ausspannen kann ich indes nicht, denn als Flow in den beiden Rampen stecken bleibt, muss ich reintreten, um den verlorenen Abstand wieder auszumerzen.


Im Tunnel riecht es moderig nach Bergfeuchte. An den Wänden haben die Fans von Andy Schleck und Jens Voigt motivierende Grafitti an die Säulen gemalt.

Ich kann mich etwas erholen, obschon 8, 9% Steigung auch weiterhin einen hohen Krafteinsatz verlangen. Ich versuche, in meinem Hirn, das schon ganz weich gekocht ist von Hitze, lahm vom Höhensauerstoff, eingeengt vom ständigen Flow-Denken, unterversorgt, da alles hier zurzeit in die Beine gehen muss, versuche ich, etwas Abstand zu gewinnen: Schaue dann und wann abseits der Strecke.

Und staune immer wieder, wie Menschen eigentlich dazu kommen, diese wahnsinnigen Straßen in diese unwirtlichen Gegenden zu bauen?


Die Tunnels sind geschafft. Der Abstand zu Flow ist wieder auf die normalen 200, 300 Meter angeewachsen und mit diesem komfortablen Vorsprung konzentriere ich mich auf das, was da vor mir und über mir liegt: La Mongie.

Sie haben dieses Monstrum aus Beton, diese Gelddruckmaschinen für Skiverrückte Urlauber, direkt in den Hang gesetzt. Hatte ich mich - ähnlich wie in Huez - auf etwas weniger steile Straßen innerhalb dieses Ortes gefreut, so werde ich nun enttäuscht. Mit weiterin 8, 9% geht es bergauf.

Links und rechts neben mir Läden für Skibedarf, Boulangerien, Cafés und Bars. Wenige Urlauber hier - und überraschend wenige Rennradler. Alle im Anstieg verendet ... denke ich mir.


Da wir uns etwas kurvenreich durch den Ort schlängeln müssen, verliere ich Flow aus den Augen. Meine Chance! Ich gehe aus dem Sattel (auch wenn ich gar keine Kraft mehr dazu habe) und beschleunige. Wenige km/h nur, aber es sind die km/h, die den Abstand in der Vertikalen bringen.

Hinter jeder Kurve, hinter jeder Häuserecke, beschleunige ich. Und erobere mir so 10, 20, 30 Meter mehr Abstand. Hoffe ich.


Hinter dem Ort zieht die Straße in einem weiten Linksbogen auf ein riesiges Betonhotel zu. Ab da sind es noch 400 Höhenmeter bis zum Gipfel. Noch viel Arbeit, das weiß ich.

Als ich in Höhe des Hotels einen Mountainbiker überhole, der auf seiner Dreifachkurbel den kleinsten Gang eingelegt hat, muss ich grinsen: Sein schnelles Treten lässt ihn aussehen, wie ein Roadrunner mit ADS-Syndrom, wie eine Nähmaschine auf Speed - und doch kommt er nur mit 5, 6 km/h voran. Dagegen sehe selbst ich, der ich, wie ich finde, eine sehr hohe Frequenz tritt, geradezu lahm aus, SlowMo am Berg ...


400 Höhenmeter noch. Wow, das ist nicht wenig. Warum nur hatte ich mir eingebildet, dass La Mongie direkt unter dem Pass ist? Blödsinn!
Wieder hat der Tourmalet dem fleißigen Rennradler einen Stich verpasst: Psychologische Kriegsführung eines Berggiganten.

Über mir wabern kühle Nebelschwaden. Mir fröstelt leicht an Armen und Knien, aber da halte ich mich an die brennende Hitze, die meinen Rumpf fast glühen lässt: Hier arbeitet ein Herz auf Hochtouren, pumpt sich eine Lunge die Bläschen wund und versucht ein Verdauungssystem, die unzähligen Gels im Akkord aufzuspalten und zu verwerten. ATP muss her! Ab in die Beine!


Lang geht es nun in einer Rechtskurve wieder sehr lang fast geradeaus. Immer mehr stehe ich nun. Immer wieder schalte ich zwischendurch einen Gang höhe, beschleunige, auch wenns nur psychologisch ist.

Ich drehe mich um. Scheiße, Flow! SO NAH?


Er hat schon fast die Höhe des Roadrunners. Unverkennbar sein Tritt - wahrscheinlich fährt Flow hier, nur so zum Spaß, alles auf dem großen Blatt. Verdammt! Mir läuft es kalt den Rücken runter. Im imaginären Teamfunk spielt der Sportdirektor verrückt.

Wie konnte er so nah kommen? So schnell aufholen? Vielleicht, weil auch er die Kurven La Mongis genutzt hat, um anzugreifen? Oder zaubert Flow jetzt wieder Reserven hervor, die ihn schon damals über dem Bonette geholfen haben - als ich schon leer war?

Ich muss mich konzentrieren!


Kurz unter dem Gipfel wird es wieder serpentinenreicher. Jetzt, da ich das Ziel sehen kann, jetzt, da ich abschätzen kann, wann das alles hier ein Ende hat - nämlich da oben - kann auch ich noch etwas hervorzaubern.

Nee, nee, mein Lieber, so ists ja nicht, dass nur Du hier ein paar Extrakörner in petto hast! Die habe ich auch!

Und aufstehen!
Und reintreten!
Los, nicht den langen, etwas flacheren, etwas einfacheren Weg durch die Kurve nehmen - stemm Dich ganz eng innen durch! Ist steil, ja, aber kürzer! Sehr viel kürzer!

Drei, vier, fünf Rampen sind es, die wir bis zum Pass zu fahren haben: Unter mir erkenne ich Florian. Und ich beiße. Ich ziehe! Ich quäle meinen Rahmen, trete das Cervélo und reiße am Lenker - ich will hier, ich muss hier gewinnen!

Panisch fast, wie auf LSD, wie betrunken, von den Zehenspitzen an in Laktat, vom Kopf hinab in Endorfin, trete ich wie ein Berserker mir die Schmach vom Bonette aus dem Leibe - und überquere mit Feueratem aus meinen brennenden Lungenflügeln das Passchild.

Als Erster.


Als Erster.
Als Gewinner.

Lars "Virenque" hat es geschafft! Atemlos. Glücklich. Betrunken lehne ich mein Rad an die Mauer. Ich wanke. Schmecke ich Blut auf meiner Zunge?

Zitternd krame ich das Handy hervor und schieße wahllos einige Fotos. Ich sollte den Abstand von Flow messen. Sollte die Zeit nehmen, die ich rausgefahren habe. Oder halt. Rausgefahren habe ich gar nichts: Flow war unten noch im Haselbusch. Eher wohl die Zeit, die ich er aufgeholt hat, nachdem ich bestimmt 5, 7 Minuten Vorsprung am Fuße des Tourmalets gehabt habe.


2.115 Meter Passhöhe.
17 Kilometer Anstieg.
1.270 Höhenmeter gemacht.

Und das bei einem Schnitt von nur 7,4% Steigung. Zahlen, nichts als Zahlen, die denen, die das hier noch nie gemacht haben, nichts sagen können. Die nichts aussagen über die Härte des Asphalts, die unzähligen, kleinen Rampen, die dieser Berg parat hat für den der es wagt, ihn entweihen zu wollen. Zahlen, die keine Auskunfft darüber geben, wie schwer Beine sich anfühlen können, wie sehr sich der Herzmuskel anstrengen kann, dass man irgendwann genau bezeichnen kann, welche der vier Herzkammern da gerade weh tut ...

Tourmalet.
Ich habe Dich im Sack!



Ich stehe da, starre in den Abgrund - über mir der Pic du Midi, der höchste Berg dieser Region. Viele Rennradler tummeln sich hier, ein Stop and Go, immer wieder Motorradfahrer, aber ich will erst einmal meine Ruhe. Stehe da. Schaue. Eine Minute. 5 Minuten.

Dann gehe ich zu Rampe. Wow, wie steil das hier abgeht! Erst jetzt sehe ich, was 8% Steigung wirklich sind - nämlich verdammt steil!

Und dann, endlich, schält sich Flow aus dem Nebel. Er überholt noch einen anderen Rennradler. Er grinst. Kommt mit dem selben endorfintrunkenen Grinsen über den imaginären Zielstrich, wie ich vorhin. Geschafft! Ich jubele ihm zu - kann mich mit ihm für ihn freuen.



Auch er lehnt sein Rad an die Wand. Hält erstmal inne. Nimmt lange Schlucke aus der fast leeren Wasserflasche. In seinen Ohren wird es genauso klingeln, wie in meinen. Vielleicht klingelt da gerade unsere Hymne, als wir uns in die Arme fallen und uns beglückwünschen.

Ehrliche Freude, vergessen das Konkurrenzgehabe, das mich diesen Anstieg hochgetrieben hat: Jetzt, hier oben, sind wir wieder ein Team. Zwei Jungs, die eine Tour machen. Zwei Jungs, die die selben Ziele haben.

Zwei Jungs, die einen der legendärsten, einen der härtesten Pässe der Tour de France geschafft haben!


Unter dem Tour-Denkmal posieren wir stolz, ein Rennradler, der weiß, warum wir so grenzdebil grinsen müssen, schießt das Siegerfoto. Wahrlich, ich komme mir vor, wie ein Held. Es mag vielleicht nur die Kombination aus Sauerstoffmangel wegen der Höhe und meiner Unterversorgung mit Energie wegen der Anstrengung sein - aber jetzt, hier oben, nach diesem Trip fühle ich mich, als sei ich der stärkste Mann der Welt.

Eine Droge, diese Gebirgspässe.
Eine Droge, das ist wahr.


Dann trennen wir uns - Flow hat Durst und muss austreten. Ich beschaue mir noch die Wand mit all den Gedenktafeln und Schildern. Jeder scheint sich hier verewigt zu haben. Und klar - sie pflegen die Legende ja auch. Die Tour de France ist nicht umsonst die wichtigste Sportveranstaltung Frankreichs: Eine riesige, 3-wöchige Werbepause für das Land, für dieses wundervolle Land, seine Berge, seine Wälder, seine Küsten und nicht zuletzt für seine liebenswürdigen, ein bisschen verrückten Menschen.



Am Gedenkstein für keinen Geringeren als Jaqcues Goddet, einem der bekanntesten Tour-Direktoren, parke ich mein Cervélo, streichle es liebevoll bedankend und mache mich auf, die Souveniershops hier oben auf dem kleinen Parkplatz zu erkunden.

In einem werde ich fündig, kaufe Postkarten, einen Tourmalet-Aufkleber für meinen Kühlschrank daheim (meine Süße wird sich freuen!) und eine große, kalte Orangina.


Ein kurzer Blick hinunter ins westliche Tal: Da ist die Abfahrt, da geht es gleich hinab! Wow, was für ein Anblick! Welche Atem beraubende Schönheit diese schroffen Gipfel erzeugen. Ganz klein, wie Ameisen, die Menschen. Ehrfurcht angesichts dieser scheinbar Äonen überdauernden Steinmassive, die uns so unbedeutend erscheinen lasssen.

Hinten winkt Flow.


Mitten auf der Passhöhe steht ein kleines Steinhäuschen. Es ist Bar, Restaurant und Souveniershop in einem. Eine wunderbare Terrasse mit dem wohl feinsten Blick der Pyrenäen lädt zum Verweilen ein.

Flow besetzt einen der Tische, ich parke mein Rennrad in Sichtweite um. Mit uns sind ganze Heerscharen anderer Rennradler angekommen, stapeln sich Carbonrahmen en masse - selbst die Mülltonnen wirken plötzlich komisch: Carbonschrott auf dem Sperrmüll.


Als ich reingehe, um mir etwas zu bestellen, schwillt mir ein dutzendfaches "Hey Mate, well done!" entgehen, es gibt ein großes Hallo: Dort sitzen sie, eine Gruppe von Australiern, die wir im Hotel in Bagneres de Luchon kennen gelernt haben.

Ich grüße zurück. Die Herren hatten sich zwei Transporter gemietet. So fahren sie zu den Anstiegen, laden die Räder aus, fahren hoch und auf der anderen Seite wieder runter, steigen wieder ein und fahren zum nächsten Berg. Wer unterwegs im Anstieg stecken bleibt, kann den Fahrer jederzeit per Handy rufen. Wer sich die harten Abfahrten nicht zutraut, kann ebenfalls im Transporter mitfahren.

Eine tolle Art, den Ruhestand zu genießen!


Meine Bestellung ist aufgegeben. Ich setze mich draußen zu Flow: Der hat bereits das zweite Eis gegessen und die dritte Orangina geöffnet. Und wieder muss ich über meinen Tourgefährten staunen: Da zaubert der doch tatsächlich in Servietten eingewickelte Butterbrote vom Frühstücksbüffet in Luchon hervor, grinst mich an und sitzt da, kauend, zum Nulltarif und genießt die Sonne.


Mir aber bringt die Bedienung den Lohn: Eine Pfirsichtarte, so dünn, dann man sie in einem Leitz abheften könnte, einen Cappucchino, dessen Crema weißer leuchtet als die Schneekuppen der umliegenden Berge ... Wo der Tour de France-Führende das gelbe Trikot bekommt, erhalte ich den gelben Kuchen.

Maillot Jaune wird zur Tarte maillot ...



Wir sitzen da. Schweigen.

Über was sollten wir auch sprechen? Wir haben gemeinsam gerade nicht weniger als den Tourmalet bezwungen. Haben seit heute morgen drei Pässe gerockt. Haben die Königsetappe unserer Tour ohne Probleme gemeistert.

Was soll man da bereden?

Anlehnen. Füße ausstrecken. Und genießend in sich ruhen.


Nach etwa 20 Minuten, die Australier haben sich längst schon wortreich verabschiedet, machen auch wir uns zum Abflug bereit. Nach Luz Saint Sauveur wird es gehen.

Zwar hatte ich anfangs geplant, die Strecke über Lourdes - immerhin dem wichtigsten Pilgerort Frankreichs, wenn nicht sogar Europas (zusammen mit Santiago de Compostella in Spanien und Fatima in Portigal) zu legen. Da uns diese Route aber aus den Pyrenäen heraus geführt hätte, werde ich wohl in diesem Jahr die heilige Grotte nicht sehen können.

Aber geheiligte Orte - radsportheilige Orte - haben wir ja zur Genüge ...



Als wir uns kopfüber in die Abfahrt stürzen, blutet mir anfangs mein Herz: Weiß ich doch, dass dieser Tourmalet der letzte Berg unserer Tour ist. Ich weiß, dass mizt dieser heutigen Königsetappe die Fahrt durchs Hochgebirge aufhören wird: Morgen noch etwas hügelig nach Pau und was dann folgt, sind, wie Flow es bei der Planung so schön sagte: "Chillige Ömmel-Etappen entlang der Gironde und der Loire bis Paris."

Also nochmal richtig genießen jetzt!
Nochmal richtig Gas geben!




Wie immer haben wir bei der Abfahrt das Gefühl, dass hier die steilere Seite ist. Bisher ist uns noch jede Abfahrt steiler als unser Anstieg vorgekommen: "Ein Glück, wir sind nicht von dieser Seite hochgefahren!", mag man denken. Was Quatsch ist: Die Westseite des Tourmalet ist nur 0,4% steiler und nur einen Kilometer länger, als unsere Ostseite.

Mühelos erreichen unsere Rennräder 65, 70 km/h - zitternd und vorsichtig schießen wir in die engen, megasteilen Kurven, bremsen und hinein, lassen los und für die nächsten 200, 300 Meter rollen.


Für Flow muss es ein ebenso wichtiger Berg sein: Er ist ein ausgesprochen bergfauler Fahrer. Nicht gern in der Steigung, durch eine Kombination aus Sturz- und Höhenangst nicht gern weit oben und ein "Schisser", wie er es sagt, in der Abfahrt.

Oh lala, muss ich da denken: Wie ein Schisser fährt er aber nicht ab! Logisch, Geschwindigkeiten, wie sie die Profis in den Abfahrten erreichen (Thor Hushovd wird am Tourmalet zwei Wochen später mit 112 km/h die schnellste Speed der diesjährigen Tour fahren), erreichen wir nicht, aber Flow nimmt die Kurven, als gäbe es keinen Gegenverkehr, bremst sich in die Serpentinen wie ein alter Hase und wenn ich nicht ab und zu mein Schissertum beiseite kehren würde, hätte ich den Anschluss an ihn schnell verloren.

Der wahre Abfahrtsschisser bin nämlich ich.
Aber bei 7.000 € Carbbon unterm Hintern bin ich das gern ...


Wahnsinn: Alle paar hundert Meter könnte ich absteigen und mir eine Parkbank wünschen. Die Ausblicke über das Tal sind so faszinierend! Wieder einmal wünschte ich mir ein Kamerateam herbei, wieder einmal wünschte ich, man könne diese Eindrücke direkt von den Augäpfeln auf Festplatte speichern: Ich habe Angst, diese Schönheit nicht in all ihren Facetten für immer Abspeichern zu können.


Hoch über uns der Pic du Midi. Unten, durch Geröllwüsten und karge Wiesen, schlägelt sich eine bisweilen gefährlich mit "Gavillons" - Rollsplitt - geflickte Straße. Ein Grund mehr, es langsam in dieser Abfahrt angehen zu lassen.

Noch oben hatte mich ein Holländer, mit dem ich ins Gespräch gekommen war, vor dem Split gewarnt. Und klaro: Bei 60 in Schräglage auf den runden Steinchen bremsen ... Sturz garantiert!


Noch lange, lange, lange wird es bergab gehen: Schier endlos zieht sich das Tal in die Ferne. Schier endlos können 18 Kilometer Abfahrt sein.

Flow und ich lassen es ein paar Kilometer rollen wie die Verrückten: Im Paarflug wie in Star Wars schießen wir als Rennrad-Rotte die Flanken des Berges hinab. Und dann, um runterzukommen, halten wir an, veranstalten fototaugliche Vorbeifahrten fürs Album. Für unser Ego. Und für die Lieben daheim.


Ich genieße die Kilometer, sauge jeden Meter in mir auf: Steine, Felsen, Gras, die Berge, der Speed - ein Rausch, ein Genuss, wahrlich.

Wie wird das nur sein, wenn ich 2 Wochen die Fans hier zu Tausenden die Hänge säumen und die Steigung garnieren. Wie wird diese Kulisse hier nur aussehen, wenn sich die bunten, verrückten Fans in ihren Taufelskostümen, gepunkteten Trikots, Borat-Kostümen und fantasievollen Verkleidungen hier ihre Lungen aus dem Halse brüllen?

Zweifellos werden Voigt, Schleck und Co dann allerdings kein Auge für diese wundervolle Natur haben können. Dürfen.


Ich stürze mich die nächste Abfahrt hinab.
60 km/h.

Wind flattert in meinen Ohren. Es knallt. Mein Bike flattert im Fahrtwind. Ich registriere Unruhe in der Gabel, muss den Lenker sehr festhalten. Viel Kraft aufwenden, um das Rad in der Spur zu halten.

Ist es das, was sie meinen, wenn sie von "Lenkkopfsteifigkeit" sprechen?


Immer wieder blicke ich mich um, schaue nach oben. Bestaune dieses grandiose Panorama, und habe fast Tränen des Bedauerns in den Augen: Der letzte Pass dieser Tour. Das war es. Berge adé.

Es zieht mich wie magisch nach oben. Wie geil wäre das? Jetzt einfach umdrehen - den Tourmalet nochmal fahren! Und dann nach Bigorre. Es gibt noch so viele Pässe, die wir nicht geschafft haben: Vom Izoard und Galibier in den Alpen mal abgesehen, wie wäre es mit dem Plateau de Beille? Luz Ardiden?

So viele Höhenmeter noch zu fahren.


Ab übermorgen also nur noch Ebene.
Kaum zu fassen, angesichts dieser Berge. Schroffe Felsspitzen, die den Himmel ankratzen.

Ich stecke mein Foto-Handy ein.
Klicke mich in die Cleats.

Vor mir liegt wieder ein gerade Stück Abfahrt. Ich werde es genießen.


Wahnsinn, wie lange es dauert, bis wir wieder die Baumgrenze erreichen. Schon unzählige Serpentinen, scheint es, haben wir geritten - und noch immer kein Ende in Sicht. Im Rausch der schiefen Ebene schießen die Digits auf dem Garmin sofort nach oben, wenn wir die Bremsen los- und das Rad rollen lassen.

Ich könnte das stundenlang machen.
Mache ich ja auch gerade.


Als hätte ein Eisenbahnmodell-Designer diese Gegend erschaffen: Perfekt geformte Berge, idyllische Rinnsale Schmelzwasser glitzern inmitten strahlend grüner Almen. Ich fühle mich wie im Miniatur-Wunderland Hamburg.


Irgendwann habe ich Flow wieder ein. Wir haben noch immer nicht die Baumgrenze erreicht, dafür aber die Zone mit dem unsäglichen Rollsplitt hinter uns gelassen. Ich kann etwas mehr laufen lassen, muss nicht mehr mit dem Sicherheits-Tunnelblick fahren, kann auch mal im Rollen die Blicke streifen lassen.

Hach!, atme ich lange ein und aus - ich kann mich hieran gar nicht satt sehen!



Flow ruft: "Wow! 3 Berge, Alter! Wir haben es geschafft!"
Ich nicke ihm zu - schon ist er wieder einige hundert Meter entfernt.

Zufrieden sind wir. Verdient haben wir es uns, dieses Siegergrinsen.


Noch immer keine Bäume in Sicht.
Noch immer Abfahrt.
Noch immer Speed ohne Ende.

Letzter Berg der Tour: Und scheinbar belohnt uns heute jemand so richtig.
Vergessen und vertragen habe ich mich mit der Schmach des Bonette: Hinauf nach Alpe d´Huez, über den Portillon, den Col de Vars, den Peyresourde, den Aspin, den mächtigen Tourmalet und nun über den Tourmalet - sollte es da noch Fragen geben, wer hier das Gepunktete Trikot verdient hat?


Nope, keine Fragen!

Und wer das Gelbe verdient hat, darüber besteht auch kein Zweifel: Denn wäre dies hier ein echtes Rennen, so wäre mir Flow zweifellos schon auf und davon gefahren - und wenn nicht bis heute, dann doch ab übermorgen: Immerhin stehen uns noch mehrere hundert Kilometer im Flachen bevor.

Und wer da wem überlegen ist, ist wohl glasklar.



Direkt am Fuße des Tourmalet, nach 18 Kilometer schier nie enden wollender Abfahrt, erreichen wir Luz Saint Sauveur, unser Etappenziel. Eine pitoreske kleine Stadt, kaum größer als Alpe d´Huez, aber ruhiger, schicker: Alte Häuser, keine Betonburgen, klassische Läden, keine neonschreienden Ski-und-Rennrad-Discounter.

Ich finde den Ort auf Anhieb sympathisch.


Im Hotel "Londres" hatte ich ein Zimmer reserviert. Schnäppchenpreis. Mitten im Zentrum gelegen, hinter dem Hotel fließt der rauschende Gave de Pau. Der Hotelier ist peinlich berührt: Er findet meine Buchung, hat aber offensichtlich vergessen, ein Zimmer auch tatsächlich zu reservieren.

Er entschuldigt sich tausendmal und beginnt, zu telefonieren. Ich warte erst einmal ab. Nach zwei Anrufen entschuldigt er sich ein weiteres mal und schickt uns in das Hotel "Le Montaigu". Er verspricht mir, dass ich dort ein Zimmer bekäme. Und auch den Schnäppchenpreis.


Dass sie unsere Reservierung verdaddelt haben, entpuppt sich als Glücksfall. Das "Montaigu" ist ein nagelneues 3-Sterne-Hotel, im Guide Michelin empfohlen - es thront über der Stadt, nur von einer alten Burgruine übertroffen, freier Blick: Das Traumhotel schlechthin!

Und erst unser Zimmer: Der Balkon vor einer Kulisse wie aus einem Tourismusprospekt, ein großer Balkon. Ein großes Badezimmer. Einfach perfekt: Ruhe, Sonne, Wärme.

Im Supermarché kaufen wir für ein fürstliches Abendbrot ein. Eine halbe Stunde später speisen wir Meeresfrüchte, Obst und Gemüse, frisches Baguette, perfekten Jambon und Frommage. Ein Traum.


Ich versuche mich am größten Bier, das der Supermarkt zu verkaufen hatte: 2 Liter Starkbier aus der Region. Ich bin sofort betrunken. Flow kommt das Essen aus der Nase heraus: Neben der Völlerei hatte er sich noch zwei (!) ganze Literflaschen YOP! reingezogen - zusätzliche 4.000 kcal. Ich habe Angst, dass er heute Nacht neben mir platzt.

Wir lassen die Sonne vor uns untergehen. Ganz hinten glüht sie noch nach. Die Gipfel des Pic du Midi schimmern golden, als wir uns schlafen legen. Und träumen.

Von Bergen.
Drei Bergen.
Drei mächtige Zacken.

Die wir heute bezwungen haben.