26. Mai 2011

Étape 1 Nice-Jausiers

Es ist ein wunderbarer Morgen. Perfekt. Herrlich. Anders hätte ich es auch nicht erwartet, denn an einem Tag wie diesem, an dem ein Lebenstraum in Erfüllung geht, muss einfach alles stimmen: Wetter, Laune, Beine.

Heute starten wir unsere Tour de France.


Flow und ich stehen sehr früh auf - bereits 8 Uhr haben wir gefrühstückt, haben wir uns mit Sonnencreme bedeckt und stehen fertig angekleidet im Foyer des Best Western - bereit für die erste Etappe.

Wie wird es sein? Was wird der Tag bringen? Fragen, die wir gestern beim Abendessen noch so intensiv diskutiert haben, sie sind jetzt belanglos. Jetzt fahren wir los - 11 Etappen und mehr als 1.300 Kilometer liegen vor uns. Adrenalin zirkuliert in meinen Adern, als wir das Startfoto vom freundlichen Concierge machen lassen.

Wir klicken uns ein. Schieben die Räder an. Rollen los. Er winkt - die "Petite Boucle" beginnt. Endlich!


Entspannt pedallieren wir durch die noch leeren Straßen Nizzas. Es ist Samstag, es sollte sowieso wenig Verkehr unterwegs sein. Komfortabel, fast majestätisch stolz geschwellt kurbeln wir mächtig die gesamte Straßenbreite ausnutzend über die Boulevards der langsam erwachenden Stadt.

Die Tour beginnt mit einem Paukenschlag - heute liegen 130 Kilometer und gleich der erste Berg auf unserer Strecke. Mit dem Col de la Bonette habe ich die Strecke immerhin über die mit 2.800 Metern höchst gelegene Straße Europas gelegt. Das Streckenprofil verspricht einen langen, mühsamen Anstieg.


Doch daran denke ich jetzt noch nicht - immerhin gilt es, den richtigen Weg durch das Straßengewirr der Perle der Cote d´Azur zu finden. Das Garmin Edge hilft mir dabei.


Ruhiges Nizza? An der Strandpromenade ist schon mächtig was los. Während wir, noch immer sehr gemütlich kurbelnd, den komfortabel breiten Radweg nutzen, komme ich mir vor wie an der Alster - Jogger und Walker allenthalben.

Auch der Verkehr an der Küstenstraßen schwillt an: Kein Wunder, liegt doch das Fürstentum Monaco nur 20 km entfernt.


Die Temperatur steigt unaufhaltsam. Keine 5 Kilometer gefahren und schon steht Schweiß unter meinem Helm. Auch der gestern noch so angenehm kühlende Küstenwind vermag es nicht mehr, mich trocken zu halten.

Ich erinnere mich wieder an Dinge wie Trinkdisziplin. Ausreichende Nahrungsaufnahme. Sowas.

Immerhin geht es heute in die Seealpen, darüber sollte auch eine so pitoreske Umgebung wie diese zuckersüße Strandpromenade mit den athletisch aufgespritzten Körpern nicht hinweg täuschen.

Es dauert etwa 40 Minuten bis wir die große Straße nach Norden erreicht haben. Ein letzter Blick über die Schulter und ein flüchtiges Adé ans Mittelmeer, dann schwenken unsere Rennräder auf Nordkurs - die Gangart wird abrupt härter.


Flow lässt mich nur einige Kilometer an der Spitze unseres kleinen Gruppettos fahren, dann setzt er sich vor mich und zieht merklich das Tempo an.

Das kenne ich schon: Immerhin fahren wir im SunClass Radsport Team zusammen die Rennen des German Cycling Cups, und da sehe ich Flows Waden auch meist nur von hinten: Er ist die geborene Lokomotive.

Da wir auch einen leichten Rückenwind haben, der die Luft ins Gebirge schiebt, erreichen wir bequem ein Stundenmittel von 35 bis 37 km/h und können so den eher unangenehm zu fahrenden Autobahn-artigen Abschnitt bis zum Beginn der ersten Berge relativ schnell hinter uns bringen.


Dass wir hier den ersten Fehler des Tages begehen, schwant mir schon: Ich kenne das Streckenprofil und weiß, dass wir bis zum wirklichen Anstieg auf den Bonette ab Start etwa 90 Kilometer zu fahren haben. Starker Tobak, wenn man die höchste Passstraße Europas noch vor sich hat.

Hier jetzt gleich in hohem Tempo zu bolzen kann nur Schwierigkeiten verursachen. Wertvolle Körner werden verbrannt. Und trotzdem halte ich meine Klappe: Warum auch? Komfortabel in Flows Windschatten genieße ich die immer näher kommenden Bergriesen, lasse mich einlullen von mediterranen Gärten der feineren Vororte Nizzas und bewundere die sich langsam aus dem Morgendunst schälenden Gipfel der ersten - bescheidenen - Berge.


Aus 4 Spuren werden 2, der Verkehr nimmt ab. Nur dann und wann überholen uns Autos und Trucks. Mein Garmin verrät, dass wir hier konstant Höhenmeter machen. Allerdings steigt nur kaum spürbar das Niveau über Null - unverkennbar und weitaus dramatischer schwellen die steilen Hänge der bewaldeten Berge über unseren Köpfen an.

Ich sitze bequem, pedalliere ruhig und konzentriere mich darauf, alle 15 Minuten zu trinken und genug zu essen - es wird ein langer Tag werden, das weiß ich heute schon.

Als wir eine erste kleine Pause machen, da sich Flow nun auch den Hintern mit meiner neu gekauften Assos-Gesäßcreme einschmieren möchte, schreiben zwei Flugzeuge genau über mir ein Kreuz ins Himmelsblau.

Ein Omen?


Das sind sie also, die Seealpen. Schroffe Karstfelsen, nur spärlich bewachsen. Karge Büsche, die dem bisschen trockenen Sand auf den harschen Felsen das bisschen Leben entlocken. Vögel kreisen und zwitschern, die Sonne knallt unerbittlich.

Unter mir surrt die perfekt eingestellte Dura Ace das Lied des Rennradsports und ich muss so oft daran denken, wie sie hier durchgekommen sind: Fignon, Anquetil, Armstrong und all die namenlosen Domestiken, die Wasserträger, Puncheure, die Bergflöhe und Rolleure.

Es sind Straßen wie diese, die die Geschichte eines so faszinierenden Sports atmen, derer wegen wir hier sind - es ist das Gefühl, diesen Legenden zumindest nachvollziehbar zu folgen, die dieses glückliche Grinsen auf unsere Gesichter zaubert.


Und natürlich diese Landschaft: Berge, das ist für einen Hamburger wie mich natürlich etwas ganz Besonderes. Wo die höchste Erhebung gerade mal 100 Meter über Null ist, wo die steilste Rampe gerade einmal 800 Meter lang ist, wirkt selbst das Alpenvorland hier mit den eher bescheidenen, wenige hundert Meter hohen Bergen, doch beeindruckend und anspornend.

Ich freue mich auf die Serpentinen!


Wir müssen nicht lange warten, da verlässt auch die Straße endgültig die Talsohle und beginnt sich, an die unteren Hänge zu schmiegen. Unverändert hoch bleibt dagegen unser Tempo. Da nun auch die Sonne gegen Mittag ihren Höchststand erreicht, ist jeder noch so kleine Schatten herzlich willkommen - meine Wasservorräte zehren sich auf.

Flow unterbricht nur selten seinen Höllentritt, dann bin ich still und schnaufe dankbar vor mich hin: Ein Glück, dass er wesentlich mehr trinkt als ich, sodass unsere schnelle Fahrt in die Berge dann und wann von Tankstopps unterbrochen wird.


Nichts desto trotz fühle ich mich an diesem ersten Tag prächtig: Da wir erst am voran gegangenen Wochenende mit unserem Rennradteam SunClass an den 130 km langen Neuseenclassics teilgenommen haben, und ich sowieso sehr viel trainiert hatte, sind meine Beine ohne Probleme in den Tritt gekommen.

Auch die die Hitze macht mir vorerst nichts aus - ich habe es sowieso gern lieber heiß als kalt. Wie sehr ich mir doch an diese verschwitzten, geradezu paradiesischen Umstände wenig später noch herbei sehnen werde!


Immer grandioser wird das Panorama, je weiter wir in das Landesinnere vordringen. Die Schlucht, in der neben uns der Fluß Isere fließt, wird immer enger, die Berge und Felswände immer höher. Selten dringt nur noch die brennend heiße Sonne direkt auf unsere Haut - sehr zum Wohlgefallen von uns Rennradfahrern.

Wir kurven die engen Schleifen ab und schlängeln uns so auf teilweise tief in überhängende Steinwände gefrästen Straßen durch die Natur. Nur selten kommen uns Autos entgegen - da es hier so eng wird, beginnen sie vor den Kurven sicherheitshalber zu hupen.

Schnell haben wir die ersten 70 Kilometer abgespult - es ist Mittag.


Flow erweist sich als dienstbare Lokomotive: Immer, wenn ich mich an die Spitze setze, um auch einmal zu führen, löst er mich spätestens dann wieder ab, wenn ich nach einer rasanten Kurvendurchfahrt auch nur kurz mal ohne Tritt laufen lasse: Anscheinend ein Zeichen für ihn, dass ich gern wieder in den Windschatten möchte.

Ich lasse ihne gewähren - ich kenne nur allzu gut den Effekt, den man als Führender hat. Denn an Position 1 überdreht man häufig, da man sich - vor allem, wenn man frisch aus dem bequemen Windschatten kommt - immer zu langsam fühlt.

"Ach", denke ich mir da, "soll er doch ziehen, wenns ihm sonen Spaß macht!"


Langsam ziehen sich die Stunden, ebenso, wie sich die Kilometer ziehen.

Die Steigung, obschon nicht wirklich hart, ist nun deutlich zu spüren: Die ersten 500 Höhenmeter sind längst schon gemacht und mit jedem weiteren Kilometer kommen sie Meter um Meter hinzu.

Recht so! Der Kamm des Bonette ist auf 2.800 Metern Höhe - je mehr wir ihm jetzt schon auf die seichte Art abnehmen, umso weniger müssen wir diese in den harten Serpentinen stemmen!


Erste Schilder künden nun vom bevorstehenden Alpenriesen. Der Pass ist offen, verrät ein Weiteres und nach den ersten Stunden dieser spannenden, aber nun doch seltsam eintönig anmutenden Schussfahrt, kommt wieder Adrenalin in unser Blut.

Der Pass! Bald kommt der Pass!


Dann öffnet sich die Enge des Tales wieder. Die kleinen, keine 1.000 Meter langen Berge weichen nun größeren Brocken. Zwar haben auch diese noch eine vollkommene Vegetation, erreichen also auch noch nicht die 1.500 Meter Baumgrenze, aber die stehen schon ganz anders da, diese Berge.

Flow tritt gewohnt einen sehr hohen Gang, er hält die Speed konstant über 30, bei 33, 34 km/h pendelt sich meist mein Edge ein - alle Achtung, für einen seichten Anstieg ist das ein saftiger Schnitt!


Langsam knurrt mir der Magen und ich will unbedingt einen Hungerast vermeiden - noch sehr deutlich sind mir die Erinnerungen an meine Nahtoderfahrung mitten in der portugiesischen Sierre Estrella in Erinnerung: Ich schlage vor, im nächsten Ort eine kleine Mittagspause zu machen.

Murrend irgendwie, aber zustimmend, willigt Flow ein. Ich merke schon, dass es schwer werden wird, hier auf dieser Tour meinen gewohnten Rhythmus zu fahren: Bisher machte ich alle 50 Kilometer eine kleine Pause, achtete stets darauf, nie schneller als notwendig zu kurbeln und war eher immer der ruhigere Fahrer.

Flow hingegen scheint auf Renneinsatz getrimmt zu sein.


Kaum ist der Beschluss gefasst, schmeißen sie uns die ersten Rampen entgegen. Nichts Wildes, keine zweistelligen Gradienten, aber genug, um selbst Florian auf das kleine Blatt und dann und wann in die Wiegetritt zu zwingen.

Sind das schon die ersten Wellen des Bonette? Sie sind es nicht, aber jedes Mal, wenn sich unsere Geschwindigkeit ruckartig von 34 auf 18 verringert, habe ich das Höhenprofil dieser unserer ersten Etappe vor Augen - und das ist nichts als ein einziger, immer steiler werdender Anstieg.


Nicht, dass ich Angst hätte: Um Himmels Willen nein! Ich habe diese Tour ja extra der Berge wegen gemacht. Alpen, die berühmten großen Pässe, die Härte und den Schweiß der Legenden nachempfinden - darum geht diese ganze Veranstaltung ja.

Respekt würde ich es eher nennen. Ja, es ist eine gehörige Portion Respekt dabei. Sich vorzustellen, wie sie hier schon 97 Mal durchgekommen sein mögen - sicherlich 15, 25 km/h schneller als wir, aber trotzdem - sich das auszumalen ist ein gleichsam intellektueller wie habitueller Hochgenuss. Ich empfinde die Steigung und erinnere die Story.

Und erwarte den Schmerz.


Hinter einem besonders spektakulären Abschnitt des Isere-Tals, der mich an Westernfilme und die amerikanische Wildnis erinnert, kommt dann endlich das ersehnte Ortsschild. Die Pause!

In einer kleinen Boulangerie tanke ich eine eiskalte Orangina (die ich im übrigen ob der wenigen Kohlensäure, des wenigen Zuckers und des Fruchtfleischanteils für die um Längen bessere Fanta halte) und kaufe mir ein frisches, riesiges Baguette mit Jambon und Frommage.

In der Sonne sitzen wir und genießen unsere Speisen. Flow hat sich am Hotelbüffet noch ein zweites Frühstück eingepackt, das er nun zu sich nimmt.


Wir lernen einen Deutschen kennen, der seinen Kombi neben der Boulangerie geparkt hat. Ich sehe das Kennzeichen - MOL - und spreche ihn an. Immerhin ist MOL der Heimatlandkreis meiner Kindheit und Jugend und es stellt sich heraus, dass dieser Herr aus dem Nachbarort stammt, in dem ich groß geworden bin.

Wie klein die Welt doch ist!

Er fragt nach unserer Route. Den Col de la Bonette kennt er nicht. Ach, das sei die höchste Straße Europas? Na, da war doch was? Ja, klar, diese Serpentinen? Ja, die kommen bald, noch so 10, 20 Kilometer. Waren im Auto aber kaum zu spüren.

Aha, machen wir da - ist er also doch nicht so hart, wie behauptet? Mmh. Enttäuschend, irgendwie.

"Abwarten", sagt Flow.


Etwas verwundert und verwirrt geht es weiter. Und wirklich: Nach nur wenigen Kilometern steigt die Straße spürbar an. Es wird kühler, zunehmend ziehen Wolkenfetzen über die nun erheblich höheren Berggipfel und mehr und mehr bin ich nun auch vorn.

Nicht, dass Flow mich lassen würde - es ergibt sich einfach in den Anstiegen. Flow wechselt nur sehr widerwillig die Gänge. Es scheint, als empfinde er das Herunterschalten als Eingeständnis von Schwäche - stoisch zieht er die dicken Gänge selbst dann noch durch, wenn mir beim Zusehen allein schon die Patella weh tut.

Klar, dass ich - sehr schaltfreudig und immer in hohen Kadenzen unterwegs - ihn gerade in steilen Stücken kinderleicht überhole und hinter mir lasse.


Erste serpentinenartige Anstiege lassen bei mir die Kette konsequent auf dem kleinen Blatt. Flow kurbelt hinter mir her, ich atme schneller, Schweiß bildet sich nun auch wieder am eigentlich ganz gut getrockneten Rücken, aber so richtig die Härte ist das hier noch nicht.

Überraschenderweise macht mir auch das Gewicht meines Rucksacks keine Probleme - immerhin schleppe ich nun schon gute 90 Kilometer die 5 Kilogramm auf meinem Rücken mit mir herum, aber weder Nacken noch Schultern beschweren sich.


Immer wieder blicke ich mich zu Flow um und zügele mein Tempo - einerseits, um ihm nicht davon zu fahren, andererseits (und viel wichtiger) um nicht unten am Berg schon zu überpacen.

Viel mehr Sorgen als dies aber macht mir das Wetter. Wo wir in Nizza noch strahlend blauen Himmel hatten, zieht es sich jetzt von Norden her zu. Keine bedrohlichen Wolken, noch ist alles fein und weiß, aber es zieht sich eben zu.

Und so auf 2.800 Metern Höhe, kann auch eine Wolke, die von unten harmlos und weiß ausgesehen hat, mitunter empfindlich kalt werden, denke ich mir so ...


Weiter hinten erkennen wir nun erste Gipfel. Schnee! Da sind sie also, die Zweitausender und Dreitausender. Da, da hinten, wo das Grün des Tals zu Ende ist und die großen Riesen in fernem Grau verschleiert locken, da muss unser Bonette sein!

Die Isere unter uns fließt nun wesentlich wilder - klar, das Gefälle hier ist auch ein anderes, als unten im breiten Flußbett bei Nizza. Ein letztes Dorf durchqueren wir, ein letztes Mal stecke ich mir das Fotohandy nach dem Shoot in die Tasche meines Kurzarmtrikots. Denn dann ...


... beginnt der Kampf. Es ist, als haben der Drehbuchschreiber dieser Etappe und Petrus einen Pakt geschlossen. Kaum da wir in der ersten Serpentine das erste mal einen Gradienten im 10%-Bereich unter den Laufrädern haben, beginnt es, zu regnen.

Regen!

Verdamm!

Von jetzt auf gleich öffnen sich die Schleusen. Flow, dem ich unten noch zurief: "Wir sehen uns am Gipfel!", schließt wenige Sekunden nachdem ich anhalte um mir meine Regenjacke überzuziehen, zu mir auf.

Scheiße - Regen!


Was folgt ist nicht mehr und nicht weniger, als ein epischer Kampf, den auch eine echte Tour de France nicht dramatischer hätte schreiben können.

Es nieselt nicht.
Es regnet nicht.

Es schüttet.

In Fäden, auf denen wie Perlen aufgereiht dicke Tropfen nach unten Stürmen, pladdert es auf uns ein. In Sekunden sind wir nass. Nach fünf Minuten komplett durchnässt. Wenig später friere ich. Seltsamerweise ist es der harte Gradient und die damit verbundene harte Arbeit meiner Muskeln, die mich wieder erwärmt.

Somit spüre ich auch nicht, wie extrem die Temperatur wirklich absinkt.

24 Grad in Nizza am Morgen.
12 Grad von Jetzt auf gleich.


Auf der Straße bilden sich Rinnsale, der Regen pladdert so laut auf meinen Helm, dass ich herannahende Autos erst im letzten Moment höre. Gischtwasser spritzt durch die Rennradgabel, in hoher Fontaine fliegt mir stetig ein Liter Wasser von hinten in die Kimme. Es wird von sonnig-heiß abrupt sehr sehr unangenehm.

Das frische Grün der Alpen verblasst im neblig-trüben Regengestöber zu fadem Grau. Weiß hängen Schwaden meiner ausgeatmeten Luft angestrengt einige Sekunden vor meinem Mund - zerstäubt dann schnell vom unaufhörlichen Getrommel des Regens.


Ich verpasse den Moment, der mir oben die Rettung gewesen wäre - das kleine Zeitfenster, eine Bushaltestelle, ein Felsüberhang, irgendwas, um kurz anzuhalten und mir die warmen, langen Klamotten - wenige zwar, aber immer - überzuziehen.

So stelle ich mich dem Regen, wohl noch entfernt hoffen, dass dieser Guss nur ein ein kurzer, ein heftiger Wolkenbruch sei und es sich unmöglich mit dieser Heftigkeit einregnen könne, in kurzer Hose, in kurzem Trikot statt mit der Langarmkombi, die ich im Rucksack habe.

Die Regenjacke gibt überfordert auf.

Bei jedem Tritt schmatzt in jedem meiner Klickschuhe die Regenbrühe. Die Zehen fangen an zu frieren.

Ein Schild teilt mit, dass wir nun im Anstieg zum Col de la Bonette sind.


Hinter einer Brücke - rechts geht es in eine senkrechte Wand, die der Berg ist, links in die Umfahrung desselben - halte ich noch einmal kurz an, um mir ein PowerGel aus dem Rucksack zu fischen. Flow schließt auf - irrwitzig grinst er und geht in die Steigung. Freut der sich etwa?

Wenige Minuten und eine Pinkelpause später folge ich ihm. Und rede mir ein, dass alles halb so wild sei. Dann regnet es eben, na und? Hatte ich früher auch schon. Nicht schön, aber hey - das machen die Pros doch auch?!


Hart wird es schnell. Die Baumgrenze erreiche ich ohne Probleme, je nachdem, wie herum ich gerade in der Serpentine bin, wirkt der Regen mal stärker, mal schwächer. Je nachdem, auf welcher Seite des Berges ich gerade bin, lässt mich der eisig vom Berg her wehende Wind mal mehr und mal weniger frösteln.

Im Schnitt fahren wir hier 8,6 Prozent Gradient. Das klingt wenig, ist aber nur ein Durchschnitt. Manche Passagen, gerade in den Kurven von einer in die andere Serpentine, mögen deutlich über 15 % haben, und die tun dann auch richtig schön weh.

Es knackt das Tretlager bei jeder kraftvollen Umdrehung.
Wie in Zeitlupe schraube ich mich in die Senkrechte.

Je mehr ich mich umsehe, umso entrückter schwebe ich auf dem nassen Asphaltband über dem Tal da unten. Je weiter ich nach oben schaue, umso feindseliger wirkt das, was mich erwartet.


Mitten im Hang - man muss schon schlucken, um den Ohren einen Druckausgleich zu bescheren, steht auf einmal ein Berghirte da und treibt seine Schafe in die hohen Almen. Erstes Lebenszeichen - von den dann und wann an mir vorbeiratternden, dick eingepackten Motorradfahrern mal abgesehen.

Doch auch der Hirte wirkt wie eine Puppe. Mechanisch steht er da und überwacht das Treiben seiner Herde. So wenig wie möglich bewegt er sich - in scharfem Kontrast zu den munter blökendem Getier.


Mir ist das Warten, bis die 100, 200 Tiere die Straße überquert haben, Freud und Leid zugleich. Endlich kann ich mich kurz ausruhen, einen tiefen Zug Wasser nehmen (eiskalt!) und die Muskeln entspannen.

Andererseits ist jeder Windstoß, der auf meine durchnässten Klamotten trifft, ein eiskalter Schauer, der mich zittern lässt. Und so bin ich dann nach 10 Minuten auch frroh, als die Wollviecher endlich durch sind, die Motorräder (Österreicher) vornewegknattern und ich mich endlich wieder in die harte, aber doch immerhin wärmende Aufstiegsarbeit stürzen kann.


Der Regen lässt sogar etwas nach und ich erliege dem Drang, zu Flow, der nun einen komfortablen Vorsprung der Schafe und meiner Pinkelpause wegen haben muss, aufschließen zu wollen.

Nächster Fehler, denn so überdrehe ich. Immer wieder gehe ich in den Wiegetritt. Doch anstatt die Schwerkraft für mich arbeiten zu lassen, soll sie mich doch das Pedal herunterdrücken, pushe ich. Zerre an den Kurbeln und fliege förmlich die nächsten Serpentinen hinauf. Blödsinnig!


Atemlos - ist das die Höhe? - und von ersten Wadenkrämpfen (links) gepeinigt muss ich mein Tempo zügeln. Als mir auch noch nach den nächsten Schlucken das kalte Wasser ein eisiges Frösteln von innen her verursacht, schalte ich endgültig auf das größte Ritzel und versuche, ruhiger zu kurbeln.

Hinter jeder Kurve vermute ich nun den Bergkamm. Aber hinter jeder Kurve eröffnet sich ein neues, noch grandioseres Panorame. Hinter jeder Kurve steigt die Erkenntnis, dass ich hier noch längst nicht oben bin - und die Angst, hier heute viel zu wenig Wasser dabei zu haben, viel zu wenig gegessen zu haben und langsam aber sicher auch die Einsicht, dass es eine ganz ganz bescheuerte Idee war, hier in Kurz hinauffahren zu wollen.


Zerfetzt hängen Wolken träge über der eisengrau nass glänzenden Straße. Minutenlang keine Geräusche mehr, keine anderen Menschen, Motorradfahrer oder Tiere. Nur mein schwerer Atem und das behäbige Surren meiner Schaltung.

Ich freue mich nun, wenn die Schilder, die hier hinter jeder Serpentine über Länge und Gradient der nächsten Rampe informieren, mal eine 7% anzeigen. 15 Kilometer geht das nun schon so - Schrittgeschwindigkeit im Dauerregen.

Stehend auf den Pedalen, bei Krämpfen und Frost in den Adern.
Ist das jetzt noch Spaß?



Hinter einer Kurve steht Flow. Den Helm abgenommen. Ich erschrecke - und erkenne doch gleich, dass ich wohl genauso aussehen mag: Vollkommen durchnässt und zitternd klammern wir uns an die Lenker unserer Räder.

Einer der deutschen Motorradfahrer schenkt uns eine Flasche Wasser - die Rettung! - und wir versuchen grinsend im anschließenden Smalltalk Stärke und Zuversicht zu spielen. Aber glauben wir wirklich daran?

Da stehen dick eingepackte Biker, die gerade über den Col gekommen sind und die uns anschauen, wie zum Tode verurteilte. Ich fahre lieber los.


Ganz kurz nur hört es auf zu regnen. Schon keimt in mir die Hoffnung, dass sie nun vorbei sei, die harte Prüfung im Regen. Guter Dinge und Flow hinter mir wissend, ignoriere ich die heißen Krämpfe und stemme mich die Steilheit hinauf.

Links und runter.
Rechts und runter.
Atmen.
Links und runter.
Reeeeechts und ... runter.
Atmen.
Links ... atmen.
Rechts ... atmen.

Arme und Handgelenke beginnen zu schmerzen. Die Krämpfe in der Wade zwingen mich immer wieder, im Sitzen zu fahren, was mir dann wieder sehr viel mehr Kraft abverlangt.

Die Serpentinen werden nun kürzer, dafür viel steiler.

Neben mir, unter mir, geht es hunderte Meter fast senkrecht in die Tiefe. Außer unserem schmalen Pfad sehe ich hier oben nichts mehr, das auf einen bewohnten Planeten schließen ließe.



Immer wieder muss ich anhalten und absteigen - durchfahren ist nun nicht mehr denkbar. Meine Muskeln kontraktieren nur noch unter Schmerzen. Protestartig schicken sie konvulsiv die Krämpfe durch meinen Körper, über den Po zieht sich das lähmende Zerren bis über den Rücken in meinen Hals.

Die Finger - kurze Handschuhe - frieren mir, die Kuppen schmerzen jedes Mal, wenn ich mit ihnen versehentlich an den Lenker lange. Meine Füße spüre ich kaum noch: Gefriert hier gerade das Wasser in meinen Schuhen?

Ratlosigkeit und ein sonderbar taubes Gefühl im Kopf (ist das die Höhe?) drücken die Laune.


Immer höher geht es hinaus. Ich quäle mich die Rampen empor. Jede zweite Serpentine steige ich nun ab, gönne mir 2 Minuten Ruhe. Aber nur so lange, bis mich das kalte Zittern bewegungslos zu erstarren lassen droht. Dann wuchte ich mich ächzend zurück in die Pedale, selbst das sonst so saftige Einklicken in die Dura Ace-Pedale klingt hier oben angestrengt dünn.

Unter mir ziehen zerfetzte Wolken durch ein entrückt wirkendes Tal. Der Regen ist nicht mehr so dicht, keine schweren Tropfen mehr - eher dürre, dünne, feine Nadelstiche, die das Kältegefühl nur potenzieren. Ich zittere nun auch bei Vollast.


Irgendwann muss das doch aufhören?
Irgendwann müssen die 15 Kilometer Anstieg doch mal ein Ende haben!

Verdammt!, denke ich, warum habe ich mir nur nicht den Kilometerstand unten gemerkt? Und wenn schon, den hätte mir in dieser dünnen Luft mein übersäuertes Gehirn eh nicht mehr freigegeben.

Das Laktat quillt mir aus den Ohren, die Krämpfe werden unerträglich. Hinter mir kurbelt Flow. Auch er zittert. Auch er trieft vor Nässe. Kälte macht auch ihm zu schaffen. Zwei verlorene Kinder der Zivilisation. Zwei arme Gestalten, ausgemergelte Gesellen, Flüchtlinge auf ihrem schweren Weg.

"Allein" - hier oben bekommt das Wort eine ganz neue Bedeutung.


Zwei besonders heftige Krämpfe lassen mich stoppen.
Schmerz!

Ich stehe in der Schräge, über mir - endlich! - die schroffen Gipfel des Cols, und kann vor Schmerz, vor Kälte und vor Nässe weder Treten noch Reden.

Flow schließt auf, er sieht aus wie ein begossener Pudel, wie der eingefrorene Mann, gerade aufgetaut, menschliches Parfait, Tiefkühltrauerklos.

Zitternd stehen wir voreinander.

"Ich ... kann ... nicht ... mehr." bringen meine blauen Lippen über sich. Kostbare Wärme geht in weißen Schwaden verloren.


Es ist nicht mehr weit. Das wissen wir. 4, höchstens 5 Kilometer sind es noch bis zum Kamm. 5.000 Meter. Nur fünf mal eintausend Meter! Und doch so unerreichbar.

Wir schieben nebeneinander unsere Räder. Wie auf Bestellung öffnet es wieder die Pforten. Der Regen schwillt an, dicke Tropfen pladdern auf uns danieder.

Kälte und Nässe finden ihren Weg durch alle Nähte. Unsere Körper quittieren jeden Windstoß mit eisigem Zucken und Gänsehaut. Nichts vermag mehr zu wärmen, auch die Gedanken liegen brach - an Denken, an Kommunikation ist nichts mehr übrig.


Mechanisch klackern unsere Cleats auf dem nassen Asphalt.
Tropfen trommeln auf die Helme ein.
Wasser läuft über meine Nase als Rinnsal an mir hinab.

Ich zittere mich weiter - Laufen kann man das nicht mehr nennen.

In jeder anderen Situation würde mich der Blick nach unten stolz machen: Grandios hoch sind wir. Höchste Straße Europas. Senkrechter Hang, faszinierende Kerben aus Asphalt, die die Serpentinen sind. Bei Sonne müssen einem hier die Tränen kommen.

Ich könnte jetzt auch heulen - nur nicht vor Glück.


Eine weitere Kurve geschafft. Wieder 50 Höhenmeter. Wieder weiter in die Wolken vorgestoßen. Wie Hohn wirken die süßen kleinen gelben Blumen, die hier am Straßenrand wachsen. Nicht einmal Vogelgezwitscher höre ich. Nur das Kratzen unserer Cleats durchbricht die Stille.

Und zunehmend das Klappern meiner Kauleisten.

Ich bin alles andere als ein Weichei. Aber langsam beginne ich mir einzugestehen, dass ich hier und heute diesen Col de la Bonette wohl nicht bezwingen werde.

Nur: Welche andere Wahl habe ich denn?


Abweisend karg umringt uns schwarzes Gestein. Selbst die absurden Höhenblumen und das saftige Gras für die Bergschafe verschwindet. Ich komme mir vor wie in einem Höllenkrater - und da wäre ich jetzt lieber, als hier, denn in der Hölle ist es wenigstens warm.

"Wärme" - was für ein abstrakter Begriff.
Ebenso wie "Trockenheit".
Oder "lange Hose".

Deplatziert, einigermaßen lächerlich komme ich mir hier vor. Da stehe ich und schlottere am ganzen Leib, die Nase läuft, frierende Augen verkniffen, verquollen und aufgedunsen von stundenlangem Dauerregen. Wie Engländer auf Mallorca, die sich nicht eincremen und ausgelacht werden ob ihrer Sonnenbrände - nur anders herum - so müssen wir wie lächerliche Anfänger, alpine Witzfiguren auf Col-Profis wirken.

Nur, dass hier keine Col-Profis sind. Die würden bei so einem Wetter niemals hier hoch fahren.


Das letzte, das ich von Flow sehe, ist, wie er sein Rad an den Rand einer Schneewehe lehnt, sein ebenso weißer Körper sich zitternd zu mir dreht und er sagt: "Mach ... Foto ... glaubt ... sonst ... keiner ... dass ... Schnee ..."

Letzte Worte.

Auch ich lehne mein Rad an die Schneewehe.
Ist das jetzt hier Schneeregen? Muss es wohl.

Krampf. Im Stehen. Selbst, wenn ich mich nicht bewege, krampft sich alles zusammen. Schmerzen am ganzen Leib. Nichts geht mehr. Rien ne va plus. Das Spiel ist vorbei.

Flow ächzt sich zurück aufs Rad. Er will es versuchen. Viel Glück!

Ich bleibe zurück. Stehe verkrampft da. Starre in den Schneesturm. Gefrorene Stele. Mahnmal der Törichten. Und hoffe auf ein Wunder ...

Es fällt mir zunehmend schwerer, meine Gedanken zu Ende-

Flow kurbelt sich langsam über mir in den Nebel. Ich höre nur noch das Knacken seiner-

Ich stehe schlotternd im Schneeregen und sorge-

Versuche zu schieben, aber starke Krämpfe beim Gehen verhindern-

Kälte lähmt jede Faser meines-

Eisige Tropfen Halbgefrorenes frieren auf meiner Brille zu-

Warum habe ich Idiot unten nur nicht die langen-

Das habe ich nun-

Kälte-

Kalt-

Kal-

K-K-K-

Plötzlich schält sich aus dem Nebel ein Transporter. Er stottert die Steigung hinauf. Unter starken Krämpfen stelle ich mich mitten auf die Straße - sie haben keine andere Wahl, als anzuhalten. Ein Pärchen um die 70 sitzt drinnen. Er macht die Tür auf, lehnt sich halb aus dem Wagen, da habe ich schon - ungefragt - das Vorderrad ausgebaut, die Fondtür geöffnet und versuche, schlotternd und zitternd, mich in das Fahrzeug zu quetschen.
Schmerz!
Sie reden beide in schnatterndem Französisch auf mich ein. Leere Augen blicken sie an, mehr kann ich jetzt nicht. Ich sitze. Sitze. Mein Rad auf dem Schoß, schlottere, zittere wie Espenlaub.

Sie steigen ein, geben auf mich zu bequatschen, er macht das Radio aus. Sie schaut ihn bitter an, würdigt mich keines Blickes. Er fragt mich etwas, unter größter Anstrengung bringe ich nur: "Jau...Jausiers..." raus und "My friend ... mon ... ami ... on the ... Col ... " den müssen wir auch noch einladen ...

Ruckartig fährt er an. Es kostet mich schmerzhafte Krämpfe, mich aufrecht zu halten. Zähne klappern. Alles ist nass. Draußen sehe ich ein Schild - 5 km zum Col.

Ich verstehe noch nicht, was es bedeutet. Für jetzt realisiere ich nur, dass die beiden mir wohl gerade das Leben gerettet haben. Meine Schenkel fühlen sich an wie gefrorene Thunfische auf dem Markt in Tokio. Obwohl sie heizen, friere ich weiter, unerbittlich zittere ich, es krampft schmerzhaft alles von oben bis unten.

Sie redet auf ihn ein. Er dreht sich um, schnattert in einer Tour. Ich schaue ihn wortlos an - verstehe kein Wort!

Dann Flow neben uns. Ich rufe "Stop, please, stop!" Er bremst. Ich mache die Tür auf - welche Pein! - "Los, spring rein!", rufe ich ihm zu. Eine Leiche mit Schneehaube, Ötzi mit Shimano-Schaltung. Ein Graus, dieser Anblick. Flow schaut mich leer an: "Ich versuche es ... so ... selber ... fahren ... "

Okay, denke ich herzlos, knalle die Tür zu, dann sei halt Held.

Weiter geht es, sie redet in einer Tour auf ihn ein. Leichenwagen. Ich hinten, zu keiner Kommunikation fähig. Serpentine um Serpentine geht es höher - draußen wird es richtig dunkel. Schroffer, schwarzer Fels und dreckiges Weiß des Schnees glänzen im Licht der Scheinwerfer. Ich blicke raus, mir wird glatt 5 Grad kälter beim Anblick dieser Todeslandschaft: Abstoßend, brutal! Dunkelheit, Stille, als wir über den Gipfel fahren.

Er dreht sich um: "Col de la Bonette ..."
"Oui, oui", sage ich nur.

Weiter schnattert er. Es klingt wie: "Wollen Sie hier nicht aussteigen?"
Ich schüttle den Kopf: "Can you ... down ... to ...Jausiers?"
Er schüttelt den Kopf. Sie auch. Energischer.
Wieder viele Sätze in der ffremden Sprache. Dann kommen wir, kurz hinter dem Gipfel, an eine Kreuzung: Er sagt "A gauche" und zeigt nach links, dann sagt er: "A droite Jausiers".

Achso - die wollen links rum und ich muss rechts.
Trotzdem, ich bleibe sitzen. "If I get out ... I die." sage ich. Sie verstehen nichts. Ein weiterer Krampfanfall überkommt mich. Ich zittere so stark, dass mein Fahrrad lauter scheppert als der Chanson im Radio. Sie schaut mich Hass erfüllt an.
Mir egal.

Er fährt rechts herum. In meine Richtung. Nun schaut sie ihn strengstens an. Sie textet ihn zu. Es klingt wie: "Was soll das? Willst Du den jetzt chauffieren? Ist doch seine Schuld, wenn er in Kurz im Schneeregen Rad fahren will! Komm, schmeiß ihn raus!"

Ich blicke apathisch aus dem Fenster. Dunkle Wolken werden von den spitzen Dreifachkuppen des Bonette aufgeschlitzt, zerteilt, zerrissen. Kein Grashalm, nur Geröll am Boden. Und Schneewehen. Dunkelheit wie in der Nacht - ein kalter Höllenberg ist das, wahrlich!

Serpentine um Serpentine geht es hinunter.

Ich komme etwas down. Entspanne mich. Die Krämpfe - zumindest im oberen Körperbereich - lassen langsam nach.


Beim Schild "5 km zum Col" auf der anderen Seite hält er dann aber an. Ich muss raus. Keine Chance. Zitternd und schlotternd stehe ich in der Kälte. Ein eisiger Aufwind pfeift mir durch die blauen Beine. Sie laden das Rad aus. Ich stehe da.

Er sagt: "Bon Vélo." und bewundert mein R3. Ein wenig beschämt stimme ich ihm zu, bedanke mich sehr herzlich, dann fahren sie - Richtung Gipfel.

Allein. Wenigstens regnet es hier nicht mehr Schnee. Leichte Krämpfe, stetig, in den Beinen. Wenigstens seichtes Grün hier. Die Brille taut auf. Ich kann meinen Mund bewegen. Zittern. Schlottern.

Und nun in eine 15 km lange Abfahrt?
10, 15, 17 % hinab bei eisglatter Fahrbahn, bei Krämpfen, die mich durchschütteln und bei gefrorenen Fingern, die keinen Bremshebel halten können?

Beste Chancen zum Abstaurz.


Die ersten beiden Rampen durchfahre ich problemlos. Mich schüttelt es es vor Kälte. Also halte ich auf offener Strecke an, fingere mir die Finger blutig am Rucksack und hole meine lange Radhose raus. Barfuß stehe ich mit vollkommen nassgesaugten Socken auf nacktem Asphalt, zittere mich in die Hose.

Ah, wohltuende Wärme.

Oh, sofort durchnässt. Aber egal - da unten. Da hinten - das muss doch Jausiers sein?
Muss es!

Weiter in die Abfahrt!

Mit jedem Meter, den ich tiefer komme, spüre ich, wie es wärmer wird. Sicher, es sind keine 20 Grad, die mich hier erwarten, aber selbst von 8 Grad Schneeregen auf 9 Grad Trockenheit ist wie eine wohltuende Kur für mich.

Ich muss mich höllisch konzentrieren: Bei diesem Wetter brechen die Reifen äußerst schnell aus, und bremsen muss ich eigentlich stetig. Kaum lasse ich die Hebel los, beschleunigt mich die schiefe Ebene auf 50 km/h. Und zitternd, mit 60 in kopfüber auf einen Abhang zuzuschießen, bei dem es 1.000 Meter steil bergab geht, macht einfach nur Angst.

Der Vorteil: Das Adrenalin holt mich aus der Apathie des Kälteschocks heraus und versetzt meinen Körper in Alarmzustand. Irgendwie scheint dieses Zeug Heizwirkung zu haben ...


Immer tiefer geht es, nun sogar bis knapp über die Baumgrenze. Das Grün wird freundlicher, ganz hinten kann ich eine kleine Stadt erkennen - das muss das Etappenziel sein!

Ich passe auf, lege mich in die Kurven, bremse mich vorsichtig hinein und lasse es nicht zu, schneller als 60 km/h zu werden - bei meinen Schlotterknien die klügste Entscheidung, obschon diese Abfahrt bei gutem Wetter ein Traum sein muss.

Ebenso wie die Auffahrt, denke ich noch, als ein, zwei Gedanken flüchtig wieder nach oben zu Flow fliegen: Vor meinem geistigen Auge sehe ich ihn zitternd durch das dunkle, schroffe Panorama der Geröllwüste im Col kurbeln.

Er wollte es ja so ...


Kurz vor Jausiers halte ich an einem Kruzifix. Ich bin Atheist. Glaube nicht an Gott. Oder sonstwas außer mich und meine Mutti. Aber irgend etwas lässt mich anhalten und irgend etwas freut sich, dass der Herr Gekreuzigte mich hier so barmherzig anschaut.

Und wer weiß, vielleicht hat er ja wirklich das alte Pärchen geschickt, genau in dem richtigen Moment? Genau zu dem Zeitpunkt, als noch das letzte Fünkchen Hoffnung, das letzte Quäntchen Kraft mich verlassen hatte und sich der biedere, bittere Geschmack der Niederlage in meinem kalten Bauch breit machte.

Wer weiß?


Ich stehe vor unserem Hotel. Blicke mich um: Da reißt gerade der Himmel über dem Bonette auf. Da oben? Da oben! Da oben war ich. Da oben scheiterte ich. Erster Berg der Tour. Und verloren.

Im Hotel kennt man meinen Namen nicht. Der junge Herr sucht und sucht und sucht und findet meine Buchung nicht. Ich stehe da - nass wie ein begossener Pudel - und bitte ihn nur, mich erst einmal heiß duschen zu lassen, den Rest können wir ja später ... Ja, ja, kein Problem!

5 Minuten später ergießt sich heißes Wasser über den Eisblock, den ich meinen Körper nenne. Heißes Wasser ... heiß ... Dampf ... dampfend ... kaum spüre ich die Hitze. Zu erst tauen die Zehen auf. Aahh, was für eine Wohltat! Dann die Schenkel - ich massiere sie mir, knete die letzten Krämpfe raus, drücke die zu kleinen Eiswürfeln gefrorenen Blutstückchen von den Aderwänden zurück in die Blutbahn. Ich dampfe. Dampfsauna. Komm, noch ein bisschen heißer! Ah, Paradies! Heiß, heißer ... bestimmt 20 Minuten stehe ich einfach da und sauniere im Stehen.

Als ich mich abtrockne klopft es an der Tür.
Flow?

Der Concierge steht da. Er will etwas sagen - erschrocken bleibt sein Blick im Chaos des erst vor 25 Minuten bezogenen Zimmers hängen: Meine Klamotten (schlammig-dreckig) liegen verstreut, als sei hier ein Taliban explodiert, es muss fürchterlich nach Affenhaus im Tierpark stinken. Er stottert: "Sir ... you have ... a Room in the ... Hotel ... next to our Hotel."

Äh, wie meinen?

"The Manager ist downstairs ... he just told ... me that you have already paid ... for the other room."

Ooops. Achso, fällt es mir ein. Hier habe ich ja storniert, weil zu teuer ... au Backe!
Ich schaue ihn an, entschuldige mich tausend mal und räume sogleich das Zimmer. Unten entschuldige ich nochmals und stecke ihm 5 Euro zu. Peinlich.

Quer über die Straße ist dann das richtige Hotel.

Einchecken - unter Grinsen des Managers - dauert wenige Minuten.
Oben im Zimmer ist schon wer.


Im Bett finde ich eine Leiche.
Flow ist dick eingemümmelt.
Hier sieht es aus wie Intensivstation - es fehlt nur das Piepen der Beatmungsmaschine.

Mütze tief ins Gesicht gezogen. Leere Augen starren mich an. Blaue Lippen. Fahlblasse Gesichtshaut. Er kann kaum sprechen. Und wenn, dann leise.

"Wo warst Du?", fragt er. Ich überlege noch kurz, ihn zu verarschen und ihm weis zu machen, dass ich oben am Col die ganze Zeit gewartet hätte. Aber er tut mir so Leid.
"Im falschen Hotel."
"Achso."

Die Leiche im Bett dämmert immer wieder weg.
Ich bringe unsere Klamotten - dem Geruch nach zu urteilen eigentlich Sondermüll - nach unten zum Waschen. Komme mit einem Salamibaguette und zwei Gläsern Milch wieder hoch ins Zimmer.

Flow scheint im Koma zu liegen.


Flow aber hat es geschafft. Den Col besiegt.
Da liegt er nun. Der Held des Tages. Das gepunktete Trikot geht an ihn.
Da liegt er und friert. Zittert.
Da liegt er und sieht jämmerlich aus in seinem Sieg. Herzzerreißend.

War es das wert, frage ich mich? War es das wert, gleich am ersten Tag seine Gesundheit aufs Spiel zu setzen? Meine Antwort kenne ich - immerhin bin ich nicht umsonst in das gehijackte Auto gestiegen. Nein, mir war es das nicht wert.

Und auch wenn er mich mit diesem Siegerlächeln dann und wann angrient - was soll ich sagen? Ich habe den Col de la Bonette nicht geschafft.

Weil.
Tja weil.

Weil das sehr hohe Anfangstempo über 90 Kilometer bei stetiger (leichter) Steigung mir zu viele Körner gesaugt hat.

Weil ich mit kurzen Klamotten total ausgekühlt bin und zum Schluss nicht mal mehr stehen konnte, ohne Krämpfe zu haben.

Weil Flow als St. Pauli-Fußballspieler sehr viel besser trainiert ist.

Weil ich keinerlei Körperfett habe, das mich hätte wärmen können.

Weil 5 Kilometer - die Distanz, die ich noch zum Gipfel hatte - wenig klingen, das alles bei 10% Steigung allerdings 30 bis 40 Minuten sehr harte Kurbelarbeit im Wiegetritt bedeutet.

Und ... weil noch 10 Etappen und so manch anderer Col auf mich warten. Die Alpen wachsen jedes Jahr um 7,5 Zentimeter. Wenn ich wiederkomme, wird der Bonette noch höher sein.


Das war sie also, unsere erste Etappe der Tour de France. Für eine "petite Boucle" ein ganz schöner Hammer. Vom heiß-mediterranen in einen Schneesturm. Von schweißnass zu klirrekaltem Dauerregen. Von Sonnenbrand zu Kälteflecken.

Hut ab vor Flow - das war eine extraharte Leistung!
Und Kopfschütteln - er hat viel riskiert. Die Tour hätte da oben auch vorbei sein können.

Abends sitzen wir unten und lassen uns ein 14 €-Menü schmecken. Wir trinken ein Bier dazu. Reden viel über den Col. Über Nizza. Über das Bergfahren und die kommenden Etappen.

Morgen stehen drei Cols auf dem Programm. Unter ihnen der Izoard, der Killer. Ich schaue aus dem Fenster. Es regnet. Es regnet sich ein. Und als wir das Licht ausmachen, um endlich den brennenden Beinen Ruhe zu gönnen, weiß ich ehrlich gesagt nicht, wie wir das schaffen sollen.


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